Flaschendrehen: Roman (German Edition)
hatte.
Traurig stand er auf und fragte mich.
»Kannst du mir wenigstens verzeihen?«
Ja, das konnte ich seltsamerweise, und ich wusste, wem ich noch verzeihen konnte, Sarah!
Bei »verzeihen« hatte ich mich sofort an Birgit, die Wahrsagerin, erinnert, die, wie inzwischen amtlich bestätigt, nicht bekloppt oder schizophren war, sondern erwiesenermaßen über die Gabe verfügte, in die Zukunft zu schauen. Sie hatte nicht nur Wechsel, Verrat, Schlangen und Frauen, die mir Böses wollen, vorausgesagt, sondern auch geraten, egal was komme, zu verzeihen.
»Weißt du Gretchen, die Gabe und Kraft zu verzeihen hat etwas Reinigendes, das wird dir sehr gut tun«, hatte auch meine Mutter immer mal wieder gesagt.
Mein sich liebevoll sorgendes Umfeld war schon länger der Ansicht gewesen, dass mich die unausgesprochene Situation mit Sarah zusätzlich belastete, und so waren alle glücklich, dass ich bereit war, mich endlich mit Sarah auszusprechen.
Rudi meinte erleichtert, jeder würde Fehler machen und dass Sarah eine zweite Chance verdiente nach allem, was wir zusammen durchgestanden und erlebt hatten.
Er hatte ein Treffen auf neutralem Boden arrangiert und begleitete mich ins Marietta, wo Sarah bereits an einem der Fenstertische saß. Ich erschrak, als ich sie sah. Sarah, die sonst die Aufgeräumtheit in Person war, stets adrett und mit bügelfrisch gestärkten Kleidern, sah fast schon verwahrlost aus. Die Haare fettig, ein Kleidermix, der überhaupt nicht passte und außerdem schon einige Tage getragen aussah, dazu mit Flecken übersät und einem blassen Gesicht, das ein Ausschlag zierte.
Sie zu fragen, wie es ihr ging, konnte ich mir sparen, zu sehen, wie sehr sie litt, ließ mich nicht kalt und tat mir weh. Sie sah mich ängstlich an, weil sie meine Reaktion nicht einschätzen konnte. Wortlos ging ich auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sarah drückte mich so fest, dass ich keine Luft mehr bekam. Sie begann heftig zu schluchzen, ich musste ebenfalls weinen und fühlte mich mit einem Schlag leichter, denn auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, so hatte ich sie schmerzlich vermisst. Rudi verzog sich diskret und ließ uns allein. Wir sprachen uns gründlich aus, und Sarah versuchte zu erklären, wie alles gekommen war. Dass sie in Clemens unsterblich verliebt gewesen war, wie sie versucht hatte, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen, als klar war, dass er sich für mich entschieden hatte, aber dass es nicht funktioniert hatte. Dann am Abend nach meiner Einweihungsparty war es passiert. Sie und Clemens hatten dieselbe Richtung gehabt und sich ein Taxi geteilt. Da beide schon sehr alkoholisiert waren, hatte Clemens sie bis zur Tür begleitet. Es war zu einem Kuss gekommen, und ab diesem Moment war sie verloren gewesen.
»Du weißt, wie oft ich Männer mit meiner herben Art erschrecke und wie oft ich mir wünsche, weniger spröde, weniger praktisch zu sein, nicht nur der gute Kumpel für alle. Clemens hat es mit nur einem Blick geschafft, mir das Gefühl zu vermitteln, dass ich weiblich, sinnlich, so was von sexy und begehrenswert bin, dass ich ihm sofort verfiel. Glaube ja nicht, dass ich kein schlechtes Gewissen hatte oder nicht gelitten, weil ich dich hintergangen habe. Vielleicht hast du gemerkt, wie ich versucht habe, auf Abstand zu dir zu gehen, und, wann immer du was Liebes gesagt hast, anfangen musste zu weinen.«
Was ich für Tränen der Rührung gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Tränen der Reue gewesen.
Mir war klar geworden, dass Sarah, die immer kontrolliert und vernünftig durchs Leben ging, die Gefährdetste von uns gewesen war, denn wenn es erst einmal ein Mann geschafft hatte, diesen gut aufgebauten Schutzpanzer aus Kontrolle und Vernunft einzureißen, musste man verloren sein. Sarah hatte plötzlich erlebt, was es hieß, sich gehen zu lassen und Gefühle auszuleben. Wie sie so vor mir saß, waren all meine Vorwürfe und mein Groll verflogen, weil ich merkte, dass Sarah nicht anders hatte handeln können. Sie war ihm hörig geworden und brauchte vielmehr meine Hilfe denn Vorwürfe, gestraft war sie zur Genüge!
Eines interessierte mich brennend.
»Hast du mit Clemens gesprochen, seit alles aufgeflogen ist?«
Sie nickte schuldbewusst.
»Ich komm einfach nicht von ihm los. Das ist wie ’ne Sucht bei mir geworden. Er will nichts mehr und sagt, es sei vorbei, aber obwohl ich weiß, dass er mich ins Verderben stürzt, würde ich sofort wieder zu ihm gehen. Kannst du das glauben? Ich, die alles im
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