Flaschendrehen: Roman (German Edition)
Chaiselongue.
Weniger als zwanzig Gäste zählte diese Veranstaltung. Aufgrund der hochherrschaftlichen vornehmen Atmosphäre flüsterte ich.
»Was ist das denn für ein Gedichteabend?«
Ben kam näher und flüsterte ebenfalls.
»Es werden Gedichte aus der Spätromantik, der so genannten Berliner Romantik, vorgetragen.«
Die Berliner Romantik sagte mir was. Eichendorff, Brentano, Hoffmann, Arnim, und wie sie alle hießen. Den Abend hatte sich einer von Bens Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, wie wir sie spöttisch nannten, gegönnt und Ben samt Begleitung, also mich, eingeladen. Ben sprach sehr selten über die Menschen, die er beriet, aber als ein momentan amtierender Minister ihn begrüßte, war klar, wem wir die Einladung zu verdanken hatten.
Nach und nach setzten sich die Anwesenden, das Licht wurde gedämmt, und plötzlich traten zwei aus Funk und Fernsehen bekannte Schauspieler auf, setzten sich auf die Chaiselongue und begannen, mit Klavier- und Cello-Untermalung, Gedichte vorzutragen. Die Gedichte zeugten von Sehnsucht, der völligen Poetisierung des Lebens, gleichzeitig aber auch von Dunklem, Unheimlichem und unbekannten Dingen. Ich war völlig hin und weg, die Leidenschaft und der Ausdruck, mit dem die beiden Schauspieler die Texte vortrugen, zogen mich in ihren Bann.
Bei einem meiner Lieblingsgedichte, Mondnacht von Eichendorff, stiegen mir die Tränen in die Augen. Lautlos sprach ich die Zeilen: »Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst« und »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus«. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass auch meine Seele wieder zu mir zurückgeflogen kam. Ben sah mich von der Seite an und legte seine Hand auf meine Schulter, was mir einen ungewollten Schauer über den Rücken laufen ließ. Nach all den Jahren, nach all der Zeit und den Enttäuschungen, die ich erlebt hatte, war ich immer noch nicht immun gegen eine spontane Berührung von Ben. Nicht einmal Clemens hatte mich dagegen abhärten können, stellte ich verwundert fest.
Die Veranstaltung war viel zu schnell zu Ende. Völlig trunken und glückselig folgte ich Ben zum Ausgang. Während wir zurück zur Fähre gingen, sprach keiner von uns beiden ein Wort. Erst als wir allein am Bug der Fähre standen, die anderen Gäste waren noch zu einem Umtrunk geblieben, dankte ich Ben für den wunderschönen Abend.
»Ich habe mich so aufgehoben gefühlt, als ob ich wieder langsam bei mir ankomme.«
Ben strahlte mich glücklich an und zog mich als Antwort und ohne Vorwarnung fest an sich. Meine Knie gaben reflexartig nach. Ich musste ihm bei Gelegenheit sagen, dass er mich nicht einfach anfassen konnte, zumindest nicht, solange er immer noch diese Reaktion bei mir auslöste. Für den Moment sagte ich aber nichts, es fühlte sich viel zu gut an, wieder einen charismatischen Mann so nahe zu spüren, auch wenn ich vom Regen in die Traufe kam. Still genoss ich Bens Umarmung, das Beben seines Brustkorbs und die Gewissheit, einen unvergesslichen Moment zu erleben.
Als die Fähre anlegte und wir an Land gingen, fiel mir auf, dass ich die Kälte überhaupt nicht mehr gespürt hatte, so warm war mir von innen heraus.
Auf dem Motorrad umarmte ich Ben eng, schmiegte mich an ihn und wusste, dass es Liv gegenüber nicht fair war, denn die Gefühle, die in mir hochstiegen, als ich seinen Körper trotz der Winterjacke so nahe spürte, waren alles, nur bestimmt nicht freundschaftlicher Natur.
Vor meiner Tür hielt er an, ich stieg ab und fragte eher höflichkeitshalber: »Magst du noch einen Tee zum Aufwärmen?«, was Ben zu meinem Erstaunen bejahte.
Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass er mitkam, er vermied es sonst wie die Pest, mit mir allein zu sein, und achtete darauf, dass wir uns immer dort aufhielten, wo noch andere Menschen in der Nähe waren.
Wie selbstverständlich ging er in mein Wohnzimmer, legte einen seiner Musikmixe, die er für mich gebrannt hatte, ein, und es erklang die Titelmelodie von In the mood for love.
Mit zwei Tassen Tee setzte ich mich zu ihm und hatte ein Déjà-vu. So saßen wir schon einmal bei ihm auf der Couch, an dem Abend, an dem wir uns beinahe geküsst hätten. Mein Magen zog sich bei der Erinnerung unwillkürlich zusammen.
Die sinnliche Stimmung des Abends klang noch nach. Wir sprachen nicht viel, sondern hörten auf die Musik und sahen uns still an.
Weitere Kostenlose Bücher