Flaschendrehen: Roman (German Edition)
stand die Frau, die lieber Eva als Mama genannt werden wollte, wie immer ausdrucksstark gekleidet, das lange glatte Haar dunkel mit rotem Hennastich gefärbt. Um den Hals trug sie eine dieser schweren Edelsteinketten, die eine ihrer kreativen Goldschmiede-Freundinnen entworfen hatte, Unikat versteht sich und auch als Schutzzauber einsetzbar. Wenn man es nicht besser wüsste, konnte man meinen, meine Mutter arbeitete als professionelle Wahrsagerin und nicht als Lehrerin.
Was um alles in der Welt machte sie hier? Und wo war mein Vater?
Natürlich hatten alle sie sofort bemerkt, kein Wunder bei ihrem Organ und der Aufmachung. Meine Kolleginnen kamen interessiert aus ihren Büros und mussten rein zufällig kopieren oder sich Kaffee nachschenken. Meine Mutter, das Zirkuspferd, wie mein Opa sie gern nannte, war das, was man eine Erscheinung nannte, ich fand Naturgewalt das treffendere Wort.
»Was machst du denn hier, Mama? Ich muss noch arbeiten!«
Unbeeindruckt umarmte sie mich und stellte sich gleichzeitig den Hälse reckenden Kollegen mit »Ich bin Eva, Gretchens Mutter« vor.
»Und wo ist Papa?«
»Frank hat seine erste Stunde bei diesem Schamanen in Kreuzberg. Meine Messe beginnt erst morgen, und da wollte ich sehen, wo du arbeitest und wie sich deine Arbeit anfühlt!«
Mir schwante Übles. Sie würde doch nicht einen Vorwand gesucht haben, um meinen Arbeitsplatz nach esoterischen Gesichtspunkten zu durchleuchten? Stiftung Warentest für Paranormales sozusagen. Ein bisschen Auren spüren hier, ein wenig Fengshui dort. Wehe, wenn sie eine Wünschelrute auspackte!
Bevor ich mich versah, war sie umringt und sofort in Gespräche vertieft.
Vorstellen musste ich sie also nicht mehr.
»Gretchen, wir leihen uns mal schnell deine Mutter aus. Sie soll mal ein paar Räume anschauen wegen Chi und so.«
So schnell konnte ich gar nicht gucken, schon waren Marion und die neue Praktikantin mit ihr verschwunden. Das gab mir immerhin Zeit, um Clemens vorzuwarnen. Bei meiner Mutter mit ihrer impulsiven, schonungslos direkten Art wusste man nie, was sie auslöste. Es war auf alle Fälle besser, Clemens auf sie vorzubereiten. Zum Glück war Marion als Erstes mit meiner Mutter in ihr Büro gegangen, denn so konnte ich mich schnell in Clemens’ Reich stehlen.
Clemens war sehr erfreut, mich zu sehen, und wollte mich sofort küssen. Ich wehrte ab.
»Meine Mutter ist hier!« Anscheinend sah ich panisch genug aus, denn Clemens ließ sofort von mir ab.
»Ist was passiert?«
Hach, er war einfach großartig. Machte sich als Erstes Sorgen, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen und so schnell wie möglich wegzurennen. Aber wenn er sie erst einmal kennen gelernt hatte, würde seine Reaktion beim nächsten Mal bestimmt anders ausfallen.
»Nein, es ist nichts passiert. Meine Eltern sind dieses Wochenende zu Besuch, das wollte ich dir noch sagen. Wie du dir seit dem Indienabend denken kannst, sind sie eben ein wenig anders als die meisten Eltern. Also falls dir meine Mutter gleich über den Weg laufen sollte, wundere dich nicht!«
Ich hatte noch nicht einmal den Satz zu Ende gesprochen, da hörte ich ihre Stimme vor Clemens’ Büro. Sie schien sich prächtig mit Marion und den anderen zu verstehen.
»Ach, und hinter dieser Tür verbirgt sich also euer legendärer Chef. Ich würde mich ja allzu gerne schnell bekannt machen.«
Bevor ihr jemand antwortete, klopfte sie an und stand, ohne ein »Herein« abzuwarten, plötzlich in Clemens’ Büro.
Berührungsängste waren meiner Mutter fremd. Mit der gleichen Unerschrockenheit würde sie auch beim Vorstand der deutschen Bank reinmarschieren – schließlich sind wir alle gleich – und munter drauflosduzen. Ja, wenn man finanziell abgesichert war und wusste, dass ein so großes Erbe auf einen wartete, das selbst die Schuh-fanatische philippinische Diktatorenwitwe Imelda Marcos im Kaufrausch nicht durchzubringen schaffte, konnte man es sich leisten, politisch korrekt zu sein, auf die Barrikaden zu gehen und gegen einfach alles zu sein. Wahrer Luxus war das.
»Clemens?« Meine Mutter war in ihrer erfrischenden Art, andere würden es dreist nennen, einfach auf seinen Schreibtisch zugestürmt.
Nach ihrem »Ich bin okay, du bist okay«-Lächeln musste er sie einfach sympathisch finden. Meine Mutter schaffte es tatsächlich immer, dass die Leute sie mochten und sich vertrauensvoll an sie wandten, ja, ihr sogar Dinge anvertrauten, die sie lieber mit ins Grab nehmen sollten. Man wunderte
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