Flaschendrehen: Roman (German Edition)
gleichberechtigt erzogen« und »Ja, das merkt man, so verwirrt wie die heutige Generation ist. Da weiß doch keiner mehr, wer Mann und wer Frau ist« drangen selbst durch die geschlossene Küchentür.
Rudi und ich mussten schallend lachen! Die Grundsatzdiskussionen waren in vollem Gange.
»Schwesterlein, womit vereinen wir die Streithähne denn heute? Hast du dir schon ein gutes Thema ausgedacht, das beide Parteien nicht gut finden werden und sie für einen kurzen Moment gegen uns vereint?«
Ja, so einfach war es nicht, die Themen gingen langsam aus. Das letzte Mal hatte ich mich für Zwangsreligionsunterricht sämtlicher Glaubensrichtungen an deutschen Schulen eingesetzt mit zweifacher Wertung im Abitur.
»Hm, wie wär’s mit verbilligtem genmanipulierten Kaviar für Mensas, damit unsere zukünftige Elite standesgemäß isst?«
Rudi lachte wieder los.
»Die haben schon ’nen Knall, findest du nicht? Wie kann man in dem Alter immer noch so starrköpfig sein und sich wegen allem streiten? Die müssen doch inzwischen wissen, dass sie in keinem Thema einer Meinung sind und keiner auch nur einen Millimeter von seiner Überzeugung abrücken wird. Die ganze Streiterei bringt nichts außer Bluthochdruck, oder hat jemals einer nachgegeben? Gelassenheit im Alter scheint an allen vorbeigegangen zu sein.«
Allerdings. Zumindest konnte man niemandem in der Familie vorwerfen, konfliktscheu zu sein. Da kam alles auf den Tisch, ob man wollte oder nicht. Einfach mal zu schlucken und sich still seinen Teil denken, das war bei uns nicht drin.
»Hast du dir mal überlegt, dass es denen vielleicht gar nicht um Themen oder Inhalte, sondern ums Streiten an sich geht? Ich hab das Gefühl, dass sie das antreibt und hochputscht. Hinterher die roten Wangen, die glitzernden Augen und die Gewissheit, noch einen Monat von den unglaublich schwachsinnigen Kommentaren und Meinungen der jeweils anderen zehren zu können, scheint mir ihr Leben zu bereichern. Eine spezielle Art der Kommunikation!«, gab ich zu bedenken.
Meine Art der Kommunikation war es bestimmt nicht. Ich war froh, wenn alles harmonisch und zivilisiert zuging.
Rudi fing an, Salat zu putzen, die Vinaigrette war schon fertig. Nach dem Salat würde es eine Maronensuppe mit Sherry geben. Hoffentlich verflog nicht aller Alkohol, der Stimmung war Alkohol zuträglich. Als Hauptgang gab es selbst gemachte Pasta mit Trüffeln, Walnussöl und Parmesanhobeln – dekadent genug für meine Großeltern und vegetarisch für meine Mutter. Zum Nachtisch stand Panna cotta mit frischer Himbeersauce bereit, natürlich ohne Gelatine und mit Agar-Agar. Sollte mal einer wagen, etwas an dem Menü zu bemängeln!
Es klingelte.
Rudi trocknete sich die Hände ab.
»Das ist Ben, ich mach auf.«
Stimmt, hatte ich fast vergessen. Das Publikum war noch nicht da. Leila musste auch jeden Moment kommen, ich hatte sie als Sarahs Ersatz eingeladen.
Seit unserem Streit bei Sarahs Essen hatte ich Ben weder gesehen noch gesprochen. Mir war etwas mulmig zumute. Hoffentlich wurde es nicht gleich verkrampft. Das fehlte noch.
Ein Wochenende mit Familie und Ben, der womöglich noch sauer war, aber kein Clemens!
Ach Clemens!
Was er wohl gerade machte? Ich vermisste ihn schmerzlich nach bereits nur einem Tag und konnte an nichts anderes denken. Bisher hatte er sich nicht gemeldet, ich wusste nur, dass er Freunde im Süden besuchte, aber wer sie waren, ob männlich oder weiblich, wusste ich nicht. Die Momente mit ihm waren immer so intensiv und einnehmend, dass ich komplett vergessen hatte, nachzufragen, was seine Vergangenheit oder familiäre Situation betraf.
Ben steckte gut gelaunt den Kopf zur Tür herein. Kein Anzeichen von schlechter Laune. Typisch, tat mal wieder so, als ob nichts vorgefallen war. Mir sollte es recht sein.
»Na, wie steht’s? Wer gewinnt?« Ben, der meine Familie gut kannte, sah die Treffen als eine Art Verwandtschafts-Championsleague.
Er vergab Punkte nach verschiedenen Kriterien, wie zum Beispiel: wer öfter empört den Mund aufriss; wer häufiger »lass mich bitte ausreden, ich hab dich auch ausreden lassen« sagte; wer erfolgreicher Unbeteiligte auf seine Seite zu ziehen vermochte durch Sätze wie »Sag Ben, das siehst du doch auch so, oder?«. Außerdem gab es Bonuspunkte für denjenigen, der als Erstes sagte »Das hat eh keinen Sinn, mit euch zu diskutieren!«.
»Keine Ahnung. Ich hab mich zurückgezogen, aber wenn du dich nützlich machen willst, schenk am besten Wein
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