Flaschendrehen: Roman (German Edition)
nachvollziehen, bei so einem Prachtexemplar wie Clemens, Horoskop hin oder her.
Meine Mutter räumte die Küche auf, und ich durfte wieder ins Bett.
Hach, wie schön, zwischen den Daunen mit vollem Magen noch mal die Augen zu schließen, von Clemens zu träumen und die Ruhe nach dem Sturm zu genießen. Die Tür fiel ins Schloss, meine Mutter war auf dem Weg zur Esoterikmesse und ich auf dem Weg ins Traumland, wo Clemens schon wartete.
Von wegen, ich konnte nicht mehr einschlafen. Stattdessen wälzte ich mich von einer auf die andere Seite und dachte an nichts anderes als den enttäuschten Gesichtsausdruck meiner Mutter, nachdem ich gesagt hatte, ich würde sie nicht auf ihre Messe begleiten. Was war ich nur für eine schlechte Tochter. Da bat sie mich, sie zu begleiten, weil ihr die Messe so wichtig war, und ich wollte lieber ausschlafen. Ich beschloss, ihr hinterherzufahren, und das nicht nur aus schlechtem Gewissen heraus. Nein, tief in mir drin interessierten mich Dinge wie Kartenlegen oder Horoskope sehr. Allerdings so sehr, dass ich einen Heidenrespekt, ja fast Angst davor hatte, ich könnte alldem eine zu große Bedeutung beimessen. Mir wurde mulmig bei Übersinnlichem, Spirituellem, und deshalb hatte ich mir nach außen hin eine äußerst skeptische und nüchterne Haltung zu allem Übernatürlichen zugelegt. Bestimmt war die Abgrenzung zu meiner Mutter ein weiterer Grund gewesen, denn gemeinsam mit der Mutter zum Pendeln zu gehen findet man als Siebzehnjährige nicht sehr angesagt.
Mit dem Fahrrad machte ich mich auf den Weg nach Friedrichshain. Es wurde langsam Herbst. Die Blätter begannen sich rot und golden einzufärben, und die Sonne prallte nicht mehr ganz so heiß.
Inzwischen war ich einigermaßen ortskundig, aber auch ohne Wegweiser hätte ich die Messe nicht verfehlen können. Trauben von Menschen, die wie Klone meiner Eltern aussahen, strömten in Richtung eines großen Platzes, auf dem lauter bunte Zelte aufgebaut waren. Heutzutage war es ja kein Problem, auf Massenveranstaltungen zu gehen, denn man konnte sich per Handy ja jederzeit orten, es sei denn, man hatte eine Mutter, die Handys wegen der Strahlung strikt ablehnte und stattdessen Handyhüllen aus Seide und Metallfäden nähte. Am Eingang empfing mich eine Frau in meinem Alter, die recht normal aussah. Nachdem ich sage und schreibe fünfundzwanzig Euro Eintritt bezahlt hatte, fragte ich sie nach dem Stand, wo man Auren bestimmen lassen konnte.
»Da gibt’s vier von. Hier ist ein Lageplan, ich kreuz dir die vier an, dann kannst du schauen, welchen Stand du suchst.«
Also nett waren sie hier zweifelsohne. Ich ließ mich ein wenig treiben und sah mir die Stände mit Kristallen und Edelsteinen gegen bestimmte Krankheiten, die Zelte mit Pendel- und Hexenbedarf an und blieb vor einem Zelt stehen, das einer Wahrsagerin gehörte.
Sie warb mit dem Slogan »Die Zukunft zu sehen ist nicht das Problem, dafür stark genug zu sein schon eher.« Hm, ob das eine kluge Taktik war? Mir machte das eher Angst. Anscheinend war ich einen Moment zu lange stehen geblieben, denn eine blonde Frau mit sanfter Stimme sprach mich an.
»Sie passen hier nicht her. Das ist Ihr erstes Mal auf der Messe, und Sie finden es beängstigend, dabei wüssten Sie zu gerne, wie es in Ihrer Liebesbeziehung weitergeht.«
Sahen heutzutage so Wahrsagerinnen aus? Wo waren die schwarz gefärbten langen Haare, roten Fingernägel und das metallic-dunkle Make-up? Wieso saß kein Rabe auf ihrer Schulter, und wo war die schwarze Katze, die ihr um die Beine strich?
Dieses kleine sanfte Wesen mit der Ausstrahlung einer Grundschullehrerin sollte die dunklen Geheimnisse des Schicksals sehen können?
Telepathisch schien sie zumindest in Form zu sein, denn sie sprach genau das aus, was ich dachte.
»Ich weiß, ich sehe nicht so aus, wie Sie sich das vorgestellt haben. Aber diese Gabe sucht man sich nicht aus. Man hat sie eben oder nicht, und wieso soll ich mich verkleiden, um einem Klischee oder einer veralteten Vorstellung zu entsprechen. Was ich sehe, ist so eindeutig, dass die Menschen schnell vergessen, dass ich optisch eher Blumen verkaufen könnte.«
Sie hatte mich neugierig gemacht.
»Was kostet denn eine Sitzung?«
Sie machte mir Zeichen, mit in ihr Zelt zu kommen.
»Es kostet, so viel es dir wert ist. Du gibst mir einfach, was du mir geben willst.«
Jetzt waren wir schon per du. Kurz überlegte ich, ob ich ihr die Gesetze der freien Marktwirtschaft erläutern oder ihr
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