Flaschendrehen: Roman (German Edition)
von ihm, und das Leben war leicht, meine Stimmung in Topform und die Schmetterlinge am Flattern. Wie konnte ein Mann so mein Leben verändern. Da orakelten alle immer, es liege nur an einem selbst, wie man sich fühlt … und wer allein nicht glücklich sei, würde es erst recht nicht zu zweit. Von wegen, mit Clemens wären selbst die verbitterte Marquise de Merteuil aus Gefährliche Liebschaften und Cruella DeVil aus 101 Dalmatiner glücklich geworden.
Glückselig und mit leicht debilem Grinsen im Gesicht legte ich auf und stieß prompt im Flur mit Ben zusammen, der meinen Gesichtsausdruck richtig deutete, sich einen Kommentar netterweise verkniff, mich stattdessen in Richtung Küche schob und mir flüsternd mitteilte: »Schnell, deine Mutter mischt irgendwas in den Nachtisch!«
Wie bitte? Konnte man die Meute denn nicht ein paar Minuten aus den Augen lassen? Wurde meine Mutter jetzt zur Giftmischerin aus Überzeugung, oder was ging hier vor sich?
Vorsichtig schlichen wir uns heran und tatsächlich, sie träufelte drei verschiedene Flüssigkeiten in die Himbeersauce.
»Was machst du denn da?«, rief ich sauer.
Meine Mutter zuckte vor Schreck zusammen und hätte beinahe ein Fläschchen fallen lassen.
Mit dem Zeigefinger vor dem Mund machte sie Zeichen, nicht so laut zu sprechen.
»Pssst. Ich mische Rescue-Bachblüten und einige Chakren in den Nachtisch. Die Aura deiner Großeltern sieht nicht gut aus, das wird ihnen gut tun. Und mithilfe der Bachblüten regen sie sich nicht mehr so schnell auf. Das funktioniert bei den Katzen zu Hause auch immer.«
Schön für sie oder für die Katzen, aber ich wollte nicht, dass jemand meinen Gästen irgendwelche Sachen ins Essen mischte … auch nicht, wenn es nur harmlose Bachblüten oder Chakrentropfen waren.
»Lass gefälligst diesen Eso-Quatsch sein. Das hier ist meine Einladung, und das hast du zu respektieren. Was du deinen Gästen ins Essen mischst, ist mir egal, aber hier bleibt alles so, wie es ist, verstanden?«
Unglaublich, aber wahr, selbst meine Mutter schien verstanden zu haben, dass sie den Bogen eindeutig überspannt hatte. Sie nickte kleinlaut und packte die Fläschchen wieder ein. Ob sie Rudi und mir auch Tropfen ins Essen mischte, wenn wir zu Hause aßen?
Die Himbeersauce schmeckte zum Glück wie immer, trotz Bachblüten und Chakren. Süßes setzt ja Endorphine frei, und dementsprechend friedlich war die Stimmung. Ich atmete auf. Wir waren schon beim Dessert, da konnte nicht mehr viel passieren, dachte ich zumindest.
Ben, der sich bisher nicht groß am Gespräch beteiligt hatte, wollte sich wohl interessiert zeigen und fragte meine Großeltern, was denn der eigentliche Grund ihres Berlinbesuchs war.
Die Augen meines Großvaters begannen zu leuchten, endlich konnte er über sein Lieblingsthema sprechen.
»Wir sind bei Freunden auf einen Generalsball eingeladen. Fast alles Generäle, die da kommen. Sehr anständige Menschen, pflichtbewusst und mutig.«
Mist! Wenn ich das gewusst hätte, wäre jedem striktes Frageverbot erteilt worden, denn die Diskussionen um die Bundeswehr oder um den Zivildienst gerieten jedes Mal völlig außer Kontrolle und waren, einmal eingeläutet, nicht mehr zu stoppen.
Wie auf Kommando legte mein Vater auch schon los.
»Mut ist Definitionssache. Ich finde es viel mutiger zu verweigern, Verantwortung zu übernehmen und Dienst an unserer Gesellschaft zu üben.«
Was jetzt kam, wussten alle. Mein Großvater würde irgendwas von »Waschlappen« und »Vaterlandsverrätern« rufen, mein Vater Gandhi zitieren, ab einem bestimmten Zeitpunkt schalteten sich dann meine Mutter und Großmutter ein, nicht etwa um zu vermitteln, wie man das Frauen gern nachsagt, sondern einzig und allein, um ihre Männer anzufeuern und zu unterstützen. Das Ganze gipfelte dann darin, dass mein Großvater meine Mutter fragte, wie sie nur diesen Mann hatte heiraten können, nur um noch einen draufzusetzen und zu betonen, dass ihm gerade einfiele, eigentlich seien sie vor dem deutschen Recht ja gar nicht verheiratet. Meine Mutter, die daraufhin alle »In der Ruhe liegt die Kraft«-Vorsätze über Bord warf, rief stets, dass sie einen Mann gesucht habe, der so wenig wie möglich mit ihrem Vater gemeinsam hatte, und das sei ihr ja offensichtlich gelungen. Ja, selbst einem Laien und Nicht-Außenstehenden wie mir war klar, wie viel Freude ein Psychologe an dieser Konstellation hätte. Unsere Familie wäre wohl so etwas wie der Sechser im Lotto für jeden
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