Flaschendrehen: Roman (German Edition)
will ich mal deine Neugierde befriedigen. Ich habe drei ältere Schwestern, zwei sind lange schon verheiratet, die älteste lebt in London. Mein Vater war Literaturprofessor für deutsche und englische Literatur, ist inzwischen pensioniert. Als ich klein war, sind wir viel umgezogen, mein Vater war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und bekam ständig spannende Lehrstuhlangebote, auch im Ausland. Zwei Jahre lebten wir in Paris, vier in London und drei Jahre in Madrid. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, und ich vermisse sie immer noch sehr.«
Seine Lippen zitterten, als er von seiner Mutter sprach. So verletzlich hatte ich ihn zuvor nicht gesehen. Er musste eine sehr gute Beziehung zu ihr gehabt haben, und ich hatte die Wunde bloßgelegt.
»Das tut mir Leid«, stammelte ich unsicher.
Clemens stand auf, zog mich aus meinem Stuhl hoch und umarmte mich fest.
»Wieso, das konntest du nicht wissen, außerdem muss jeder mit solchen Schicksalsschlägen in seinem Leben fertig werden; und lieber habe ich einen Grund zur Trauer, weil wir alle zuvor eine so schöne Zeit hatten, anstatt Angst davor zu haben, zu fühlen und zu lieben. Gefühle machen mir keine Angst. Die einzige Angst, die ich habe, ist die, nicht gelebt oder etwas nicht versucht zu haben, was ich versuchen wollte, und es später zu bereuen. Was wirklich schmerzt, sind die Gefühle, die wir nicht leben.«
Vielleicht lag es daran, dass Clemens diese Intensität ausströmte, weil ihm Gefühle so wichtig waren und er keine Angst davor hatte, sie zu leben. Das musste einen Teil seiner Faszination ausmachen, diese Unerschrockenheit und dieses angstfreie Leben. Genau das machte ihn aus: sich mit Begeisterung in neue Situationen und ohne Handbremse ins Leben zu stürzen. Diese Lebendigkeit spürte ich, und ich wollte ein Teil davon sein. Und wenn man Teil dessen war, kam einem das Leben plötzlich wie ein fortwährender Rausch vor, der einen wieder offen und neugierig werden ließ und jeden Tag zu einem Ereignis machte.
»Sag, haben dir die vielen Umzüge nichts ausgemacht?«, lenkte ich das Thema in weniger verfängliche Bahnen.
»Mir überhaupt nicht, im Gegenteil, ich fand es sehr spannend. Meine Schwestern haben eher gelitten. Sie waren aber auch schon älter und bauten Bindungen auf. Für mich war in erster Linie wichtig, dass wir als Familie zusammen waren. Eigentlich habe ich mich an diese Art Nomadenleben gewöhnt. Mein Umzug nach Berlin war der insgesamt sechzehnte in meinem Leben. Du müsstest mal meine Wohnung sehen, da hängt immer noch kein Bild, und es sieht aus, als ob ich gestern eingezogen wäre.«
Wie praktisch, dass er das Thema selbst anschnitt, bisher hatte er mich noch nie zu sich eingeladen. Wir trafen uns immer bei mir.
»Davon würde ich mich zu gern überzeugen, lädst du mich ein?«
Clemens küsste mich als Antwort.
»Na klar, was denkst du denn? Schließlich will ich mich für dein Sterneessen revanchieren. Ich kann übrigens auch ganz gut kochen, und du weißt, was man Männern nachsagt, die gut kochen?«
Nein, wusste ich nicht und schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Hab ich gerade so dahergesagt«, prustete Clemens los. »Aber ich bin überzeugt, dass man es ähnlich wie tanzende Männer interpretieren kann. Beides sind ja sehr sinnliche Tätigkeiten.« Sprach’s, fasste mich bei den Händen und wirbelte mich tanzend in Richtung Bett. Schwindelig ließ ich mich in die Kissen fallen, und bevor ich mich versah, lag Clemens neben mir und begann mich zu streicheln, und zwar genau da, wo ich es mochte. An den Seiten von der Achsel über die Taille zu den Hüften. Kaum zu glauben, aber er machte das intuitiv richtig.
»Wie schaffst du es bloß, mir so den Kopf zu verdrehen, Gretchen«, flüsterte er und wartete keine Antwort ab.
»Schau mal, hab ich gestern in so ’nem Laden bei den Hackeschen Höfen gefunden, wie findste?« Michi zeigte stolz auf ein Spaghettitop, bauchfrei und extrem brustbetonend. Aha, ihre Modeberaterin musste ihr zu einer neuen, verschärften Taktik geraten haben, die Röckchen schienen nicht zu genügen, Michi ging jetzt aufs Ganze.
Nichts gegen Michis neuen Stil, alles in allem sahen die Klamotten gut aus, nur leider passten sie nach wie vor überhaupt nicht zu Michis unsicherem Auftreten. Das war wie Selbstbräuner für die Beine, theoretisch ’ne tolle Sache, in die Praxis umgesetzt ein fleckiges Desaster.
»Hübsch«, speiste ich Michi kurz ab, denn mich beschäftigten andere Sachen. Diese
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