Flaschendrehen: Roman (German Edition)
zumindest sah ich es so – und Dianes entnervtem und viel zu lautem »Ttsss, nur weil sie die Gastgeberin ist« nach zu urteilen, sie auch.
Clemens nahm die enttäuschten Gesichter nicht wahr, setzte sich wieder auf seinen Platz, drehte die Flasche, die bei Michi stoppte. Was jetzt kam, war vorhersehbar und richtig. Michi überlegte nicht eine Sekunde. Ohne zu zögern, krabbelte sie geradewegs auf Clemens zu, sie konnte mir danken, dass sie es in meinen Klamotten und ohne ihre Federboa auf dem Kopf tat. Michi konnte ich nicht böse sein. Sie hatte etwas Rührendes und Hilfloses an sich, man wollte sie nur vor sich selbst beschützen.
Kurz vor Clemens’ Gesicht schloss sie die Augen, küsste ihn auf den Mund und wollte gar nicht mehr aufhören. Ein Bild, auf das ich gern verzichtet hätte. Clemens war zu einfühlsam, um Michi abrupt zurückzuweisen. Vorsichtig löste er sich. Selig taumelte Michi auf ihren Platz zurück und starrte nur noch Clemens an. Diane verdrehte die Augen, etwas zu sagen, wagte sie nicht mehr, sie wusste genau, dass sie sich in Bezug auf Michi bereits zu viel geleistet hatte.
»Du musst die Flasche weiterdrehen, Michi«, erinnerte Rudi Michi an ihre Pflichten.
Mit dem Kopf in den Wolken, den Blick weiterhin auf Clemens gerichtet, gab sie der Flasche einen leichten Schubs, der nicht einmal für eine ganze Drehung ausreichte. Die Flasche schaffte es gerade bis zu ihrem Nebenmann, und das war Rudi. Ob diese Situation Rudis persönliche Hölle war? Flaschendrehen mit lauter hübschen Mädels, und er musste sich entscheiden und eine aussuchen. Jetzt war ich gespannt. Wen würde sich Rudi wohl aussuchen. Leila, mit der er schon so lange flirtete, die Teletubbies oder etwa Diane, die es ihm ja leider angetan hatte und die sich schon in Position setzte.
Es lag ungefähr dieselbe Spannung in der Luft wie bei Clemens vorher. Rudi, der bestimmt kein Flaschendrehen als Hilfe oder Vorwand nötig hatte, um ein Mädchen zu küssen, bewegte sich in meine Richtung. Hey, so viel diplomatisches Geschick hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Sehr weise, den brüderlichen Wangenkuss zu erwidern, dachte ich und sah zu, wie Rudi an mir vorbeizog und zu meinem allergrößten Erstaunen Sarah küsste! Wenn mich nicht alles täuschte, wurde er sogar etwas rot. Was war denn hier los? Hegte mein Bruder verborgene Gefühle ausgerechnet für Sarah, die einzige Frau, die gegen seinen Charme und seine Masche immun war?
Sarah schien genauso überrascht und stammelte nur: »Hä?«
Rudi lachte und flüsterte ihr laut genug ins Ohr, dass ich es auch noch hören konnte. »Danke! Du bist der einzige neutrale Boden außer meiner Schwester in diesem Raum. Du bist die Schweiz für mich!«
Sarah knurrte zurück, solange er keine schlechte Kampagne wie »Du bist Deutschland« daraus mache, ginge es in Ordnung.
Kraftvoll drehte Sarah die Flasche weiter. Sie drehte sich schnell und lange, bis sie vor Diane zum Stillstand kam. Diane genoss die Situation sichtlich. Klar, einen Augenblick lang die Macht, das Sagen über alle zu haben, gefiel ihr. Ihre Entscheidung konnte wenn überhaupt nur zwischen zwei Männern fallen. Clemens oder Rudi. Beide waren höchst attraktiv, und mit beiden konnte sie genug andere Mädchen ärgern, mich inklusive. Gespielt ratlos schlug sie die Hände vors Gesicht, wartete ab, bewegte sich in die Mitte, um endlich Clemens mit angewinkeltem Zeigefinger zu sich herzuwinken. Clemens blieb sitzen und ließ Diane zu sich kommen. Ich wollte die Augen schließen, aber es war wie bei einem Unfall oder einem anderen schrecklichen Ereignis, die Faszination des Grauens zwingt dich hinzuschauen. In diesem Fall hätte ich es besser nicht gemacht, denn Diane öffnete ihren Mund und versuchte tatsächlich, Clemens ihre Zunge in den Mund zu schieben. Zum Glück wich er schnell genug weg, aber die Vorstellung, ihn später wieder zu küssen, nachdem Diane versucht hatte ihn abzuschlecken, war wenig appetitlich. Ich konnte froh sein, dass ich ihn zuerst geküsst hatte, bevor alle anderen dran waren. Falls Diane von Clemens’ Reaktion enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Geschickt bewegte sie die Flasche, die sich pirouettenartig und sehr gleichmäßig drehte. Bei jeder Drehung hielt ich die Luft an, denn natürlich konnte es einen immer zweimal erwischen. Falls es mich noch mal traf, würde ich Michael, einen guten Freund von Rudi, küssen, hatte ich mir vorgenommen. Denn Clemens zurückzuküssen wäre zu
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