Flatline
Mitternacht, als die letzten Gäste sich verabschiedeten. Melissa musste schon gegen elf nach Hause, ihr Babysitter konnte nicht länger bleiben.
Eugen Strietzel und Joshua saßen am Küchentisch, genossen einen exquisiten Rotwein und ein letztes Bier, während Daniel damit beschäftigt war, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen.
»Was ist eigentlich mit dir los, Joshua? Du sagst seit Stunden nichts mehr.«
Joshua drehte gedankenversunken sein Bierglas.
»Kann man die Antikörper von diesem Lambert nicht einfach Jack injizieren?«
»Daher weht der Wind. Nein, so einfach ist das nicht. Es ist ein Impfstoff erforderlich, der das Immunsystem veranlasst, eine ausreichende Anzahl Antikörper zu produzieren. In Lamberts Fall wurde es dazu angeregt. Wir wissen leider nicht wodurch. Joshua«, Strietzel legte seine Hand auf Joshuas Arm, »in der Uniklinik ist Jack bestens aufgehoben. Wer behandelt ihn eigentlich?«
»Doktor Rosenbaum.«
»Rosenbaum? … Hm, kenne ich nicht.«
Es lag an der Sorge um seinen Freund, aber auch am Alkohol, dass Joshuas Gedanken so schwerfällig und zäh flossen. Während er den Mediziner mit leerem Blick und glasigen Augen ansah, verweilten sie noch immer bei den letzten Sätzen. Aus einem entlegenen Winkel rauschte wie ein sanfter Wind Michalkes Computerausdruck in sein Bewusstsein. Das Phantombild vermischte sich mit dem Gedankenbrei der letzten Sätze und erhielt langsam einen Namen. Stundenlang hatte er sich den Kopf zerbrochen, woher er diesen Mann kannte. Nun hing sein Bild glasklar an der Innenseite seiner Stirn. Wie eine Folie lag das Phantombild darüber. Die Gesichtszüge wirkten übertrieben, beinahe wie eine Karikatur. In einer Art Metamorphose glichen die Bilder sich immer mehr an, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren.
Sein Blick wurde klar, Joshua spürte die sich spannenden Muskeln. Die Pulsfrequenz erhöhte sich stetig, angestrengt versuchte er, seinen Verstand anzutreiben. Der erste klare Gedanke jagte ihm einen Schrecken ein. Jack war in höchster Gefahr! Sollte er das nächste Opfer dieses Wahnsinnigen werden? Joshua sprang hoch, rannte zur Garderobe und zog das Handy aus der Lederjacke.
27
Strietzel hatte sich nur widerwillig bereit erklärt, Joshua zur Uni zu begleiten. Er war immer noch außer Atem. Joshua hatte nicht die Nerven gehabt, in Daniels Wohnung auf ein Taxi zu warten. Im Dauerlauf zog er den Rechtsmediziner hinter sich her zum Taxistand am Hauptbahnhof. Strietzel hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sein Kochkostüm auszuziehen.
Die Nachtschwester wirkte äußerst verwirrt. Sie erzählte von Besuchszeiten und Nachtruhe der Patienten. Erst als Joshua ihr seinen Dienstausweis unter die Augen hielt, schien sie die Lage halbwegs zu realisieren. Misstrauisch wanderten ihre Augen an Strietzels Kleidung entlang.
»Wo ist Doktor Rosenbaum?«, Joshuas laute Stimme war nicht dazu bestimmt, den gesundheitsfördernden Schlaf der Kranken aufrechtzuerhalten. Frau Grunert, wie das kleine Namensschild an ihrer Brust verriet, war immer noch sichtlich irritiert.
»Sie müssen sich in der Klinik geirrt haben, junger Mann. Bei uns arbeitet kein Doktor Rosenbaum.«
Joshua wurde wütend. Dieser Rosenbaum konnte nicht unbemerkt geblieben sein.
»Ich habe ihn selber von der Intensivstation kommen sehen, mich sogar mit ihm unterhalten. Bitte denken Sie nach. Wo ist Doktor Rosenbaum?«
Frau Grunerts Augen begannen, zu flackern. Energisch stemmte sie die Arme in die Hüften.
»Folgen Sie mir bitte. Leise!«
Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee mischte sich in dem kleinen Raum mit dem Geruch von Medizin. Die Frau in dem dunkelblauen Kittel zog einen dünnen Ordner aus der Schublade eines Metallschrankes. Sie befeuchtete ihren rechten Zeigefinger, bevor sie darin blätterte. Mit strenger Mimik drehte sie sich um und hielt Joshua die aufgeschlagene Mappe entgegen.
»Bitte. Wenn Sie glauben, ich wüsste nicht, mit wem ich hier Tag für Tag zusammenarbeite, dann überzeugen Sie sich gefälligst selbst. Das ist eine Liste aller Mitarbeiter dieser Klinik. Die Seite mit den Ärzten ist aufgeschlagen.«
Joshua sah ihr einen Moment in die Augen. Strietzel stand neben ihm und überflog die Auflistung. Ein Doktor Rosenbaum befand sich nicht darunter.
»Kann ich Ihren Ausweis noch mal haben?«
Joshua hob überrascht den Kopf.
»Sie haben eine ganz schöne Fahne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seine Ordnung hat, wenn hier mitten in der Nacht
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