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beruhigte ihn. Er ging in den Garten und sah sich um. Rechts und links reihte sich ein Schrebergarten an den anderen. Stachinsky hatte ansonsten keine Ahnung, wo er sich befand und vor allem, wie er dort hingekommen war. Angestrengt dachte er nach, versuchte die Erinnerung an die letzte Nacht aus dem Ozean der Schmerzen zu fischen. War er überfallen worden? Mit der rechten Hand fühlte er die Brieftasche in seiner Gesäßtasche. Er zog sie heraus und durchwühlte sie. Im hinteren Fach befand sich ein Stapel Geldscheine. Er zog einen Zettel heraus.
MedicalScience
, Heerdter Straße 100.
Wie das Feuer einer Öllampe schien dieser Zettel den Nebel zu lichten. Tröpfchenweise floss die Erinnerung in sein Bewusstsein zurück. Ein Name erschien glasklar vor seinem inneren Auge: Jonas Fahnenbruck! Die Gedanken an den Vorabend formten sich zu einem Bild. Die Waffe in der Rechten, griff er mit der linken Hand zur Türklinke, als er den dumpfen Schlag spürte. Langsam erkannte Thomas Stachinsky logische Zusammenhänge. Das Licht in dem Anbau ging wenige Minuten zuvor aus. Fahnenbruck hatte das Gebäude durch einen anderen Ausgang verlassen, um sich von hinten an ihn anzuschleichen. Die Logik verlangte nach einer weiteren Antwort. Der Antwort auf eine Frage, über die er gar nicht mehr hätte nachdenken dürfen. Warum lebte er noch? Was wollte Fahnenbruck damit bezwecken, er selbst hatte ihm schließlich dieses Treffen angeboten. Welchen Sinn sollte es machen, dem Gespräch auf diese Art auszuweichen? Fahnenbruck musste auf Zeit spielen, er war im Begriff, seine Flucht vorzubereiten, schloss Stachinsky.
Ziellos lief er die Straße herauf, vorbei an Dutzenden von Schrebergärten. Er hatte sie immer für spießbürgerlich gehalten. Stachinsky vernahm ein wohltuendes, sanftes Plätschern neben sich und hielt an. Der Blick auf den idyllischen Tümpel und die liebevoll arrangierten Beete weckte den Wunsch in ihm, hier seinen Lebensabend zu verbringen, sich mit Rosen und Narzissen zu beschäftigen bis zum nächsten Winter. Als er weiterschlenderte, spürte er eine große Leere in sich. Nachdenklich registrierte er, wie das Feuer des Hasses in kokelnde Glut überging, wie sich sein Wunsch nach Rache in Gleichgültigkeit verwandelte. Verkrampft suchte er in den hintersten Winkeln seines Verstandes nach den Gründen für diesen Hass. Vergeltung für seinen Sohn war die einzige Aufgabe, die das Leben noch für ihn bereithielt. Irgendwann in ferner Vergangenheit war er falsch abgebogen. War es schon früh in seiner Jugend gewesen? Bei der Kellerparty seines Freundes, als er Helena kennenlernte? Oder war der Banküberfall die Ausfahrt, an der er hätte vorbeifahren sollen? Stachinsky fühlte sich alt und elend. Es kam ihm vor, als sei er sein Leben lang durch einen dunklen Tunnel gelaufen, von der Hoffnung getragen, irgendwann im hellen Glanz der Sonne zu stehen. Nun schien er am Ende des Tunnels angekommen zu sein und stand vor einer verschlossenen Tür.
Nach zehn Minuten gelangte er an eine Hauptstraße. In einigen Hundert Metern Entfernung erkannte er die Stichstraße, in der er letzte Nacht gewesen war. Stachinsky lief in ihre Richtung, er wollte Klarheit.
An der Einfahrt stand ein Streifenwagen. Stachinsky lief scheinbar desinteressiert vorüber. Die Liefereinfahrt der nächsten Firma war frei. Er ging westlich an dem Flachbau entlang. Am Ende des Weges gelangte er durch dichtes Gebüsch in den Wendehammer der Sackgasse. Vier Streifenwagen, zwei zivile Einsatzfahrzeuge und ein heller Lieferwagen parkten dort.
»Auch den Schleichweg entdeckt«, zischte ein junger Mann in olivgrünem Parka neben ihm. Seine Schultern waren mit Kamerataschen behängt. Stachinsky reagierte sofort.
»Anders lassen die uns ja nicht dran. Weißte schon, was passiert ist?«
»Ein gewisser Fahnenbruck ist umgelegt worden. Mehr weiß ich auch noch nicht.«
Stachinsky merkte, wie seine Knie nachgaben. Mit einigem Kraftaufwand spannte er seine Muskeln. Die Antwort des Journalisten donnerte wie ein Gewitter durch seinen Körper. Was hatte das zu bedeuten? Wortlos drehte er ab und ging den Weg, den er gekommen war. Jemand hatte in der Nacht seinen Plan vollzogen. Er wollte mit Jonas Fahnenbrucksprechen, sich die Gewissheit für seine dunkle Ahnung holen. Nun war Fahnenbruck tot, ohne dass Stachinsky dafür bezahlen musste.
Alles, was ihm noch blieb, war seinen Sohn zu beerdigen. Zuvor wollte Stachinsky alle Rechnungen
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