Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
»Welchen Roten Bullen meinst du denn?«
»Gibt es denn mehr als einen?«
»Nun ja – der erste, der mir einfällt, wäre der Rote Bulle in St. Elfrieda.«
Er lächelte versonnen, als erinnerte er sich an einen schönen Abend bei Bier und Dartspiel.
»Und welcher noch?«
»Also … es gibt den Roten Bullen auf der grünen Wiese aus Kim, das war der Gott der neunhundert Teufel … den roten Bullen oder Stier der Borgias, das war ein Banner, aber mit goldenem, nicht grünem Grund … das berüchtigte Schauspielhaus Zum Roten Bullen, das 1666 beim großen Brand von London zerstört wurde … den Roten Bullen von England aus der Sage, der dem Schwarzen Stier von Schottland bei einem Kampf auf Leben und Tod gegenüberstand … und im Mittelalter verabreichten die geistlichen Ärzte den Epilepsiekranken das Haar eines Roten Bullen als Heilmittel. Habe ich einen vergessen?«
Ich hatte den Eindruck, als sei der »Rote Bulle«, der Fenella überfallen hatte, nicht dabei gewesen.
Der Doktor bemerkte meine Verwirrung. »Warum fragst du?«
»Nur so. Ich hab das neulich irgendwo gehört … wahrscheinlich im Radio.«
Er glaubte mir nicht, war aber höflich genug, mich nicht zu bedrängen.
»Da ist St. Tankred«, rief ich. »Sie können mich hier am Friedhof rauslassen.«
Dr. Darby bremste. »Willst du ein Gebet sprechen?«
»So ähnlich«, antwortete ich.
Eigentlich wollte ich nachdenken.
Denken und Beten sind so ziemlich dasselbe, wenn man mal drüber nachdenkt – oder? Gebete schickt man zum Himmel empor, Gedanken fliegen einem zu; ansonsten wüsste ich keinen großen Unterschied.
Ich jedenfalls dachte nach, als ich querfeldein nach Buckshaw ging. Ich dachte über Brookie Harewood nach und darüber, wer ihn umgebracht hatte und warum, und das war im Grunde nicht viel anders, als wenn ich für seine Seele gebetet hätte, fand ich.
War das etwa die lang gesuchte Verbindung zwischen christlicher Nächstenliebe und kriminalistischen Ermittlungen? Ich konnte es kaum erwarten, dem Vikar davon zu erzählen.
Nach einer Viertelmeile kam ich an das von Hecken gesäumte Sträßchen, an dem sich Porcelain versteckt hatte.
Meine Füße bogen ohne mein Zutun ab.
Wenn Porcelain klar war, dass ich ihre Oma nicht hatte erschlagen wollen, hatte auch sie von mir nichts dergleichen zu befürchten. Es musste einen anderen Grund gehabt haben, weshalb sie sich im Gebüsch versteckt hatte – einen Grund, der mir bei unserer Begegnung noch nicht eingefallen war.
Ich kletterte über den Zauntritt auf die Straße. Ungefähr hier war sie aus dem Gebüsch gekommen. Ich blieb stehen und lauschte.
»Porcelain?«, fragte ich.
Wie kam ich eigentlich auf die Idee, dass sie noch hier war?
»Porcelain?«
Keine Antwort.
Ich holte tief Luft und war mir darüber im Klaren, dass es womöglich mein letzter Atemzug war. Bei Porcelain konnte man nie sicher sein, ob sie einem nicht im nächsten Augenblick ein Messer an die Kehle setzte.
Noch ein tiefer Atemzug – vorsichtshalber –, dann schlüpfte ich in die Hecke.
Hier hielt sich niemand versteckt, das sah ich gleich. Nur das zertrampelte Unkraut erinnerte noch an Porcelains Hinterhalt.
Ich kauerte mich genauso hin wie sie und versetzte mich in sie hinein. Dabei streifte meine Hand etwas Hartes, im Unkraut Verborgenes. Ich zog es heraus.
Das Ding war schwarz und rund, hatte einen Durchmesser von ungefähr sechs Zentimetern und war aus dunklem, exotischem Holz gefertigt, vielleicht aus Ebenholz. Am Rand waren die Tierkreiszeichen eingeschnitzt. Ich fuhr mit dem Finger über zwei Fische.
Diesen Ring hatte ich zuletzt auf der Kirmes gesehen. Und zwar in Fenellas Zelt auf dem Tisch. Die Kristallkugel hatte darauf geruht.
Porcelain hatte ihn offenbar aus dem Wohnwagen ihrer Oma mitgenommen und sich damit aus dem Staub machen wollen, als ich sie überrascht hatte.
Aber warum? War der Ring ein Erinnerungsstück? Besaß er sentimentalen Wert?
Porcelain trieb mich noch in den Wahnsinn. Immer wieder verhielt sie sich völlig unberechenbar und unlogisch.
Als ich den Ring so betrachtete, fiel mir ein, dass die Kugel ganz offen und darum hervorragend versteckt zwischen meinen Laborgeräten aus Glas stand und ihrer Untersuchung harrte.
Ich hatte sie auf Fingerabdrücke untersuchen wollen, obwohl die meisten Spuren vermutlich im Fluss abgewaschen worden waren. Philip Odell, der Radiodetektiv, hatte Inspektor Hanley mal erklärt, dass die Absonderungen von Handflächen und Fingern überwiegend
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