Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
nicht begonnen hat, besteht die Hoffnung, dass er noch verhindert werden kann« hielt. Da sich alle erwachsenen Einwohner von Bishop’s Lacey um die Rundfunkempfänger versammelt hatten, war der Brand von niemandem, nicht einmal von der sechsköpfigen Freiwilligen Feuerwehr, rechtzeitig entdeckt worden. Als die Feuerwehrleute schließlich mit ihrer handbetriebenen Pumpe anrückten, war das Haus nur noch ein glimmendes Aschehäuflein. Den Büchern war zum Glück
nichts passiert, da sie wegen der Renovierung vorübergehend ausgelagert worden waren.
Kurz darauf brach der Krieg aus, und weil auch nach Kriegsende überall die Mittel knapp waren, wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. An der Stelle, wo es gestanden hatte, in der Cater Street, befand sich jetzt lediglich eine unkrautüberwucherte Brache, gleich um die Ecke vom Dreizehn Erpel. Da das Grundstück den Dorfbewohnern auf unbegrenzte Zeit vermacht worden war, durfte es nicht verkauft werden, und die eigentlich nur übergangsweise eingerichteten Räumlichkeiten in der Cow Lane, in denen die Buchbestände lagerten, boten der Bücherei inzwischen eine dauerhafte Heimat.
Als ich von der Hauptstraße abbog, sah ich das Gebäude schon, einen niedrigen Kasten aus Glasbausteinen und Wandfliesen, der in den 1920er Jahren als Ausstellungsraum für Automobile errichtet worden war. Etliche Original-Emailleschilder mit den Namen ausgestorbener Automarken wie »Wolseley« und »Sheffield-Simplex« hingen noch an einer Wand unter der Decke und somit zu hoch für Diebe und Vandalen.
Heute, fünfundzwanzig Jahre nachdem der letzte Lagonda zum Tor hinausgerollt war, war das Gebäude, wie das ausrangierte Geschirr in einem Dienstbotentrakt, in einen altersschwachen Zustand des Verfalls übergegangen. Dahinter, zwischen dem ehemaligen Ausstellungsraum und dem verwaisten Treidelpfad längs des Flusses, duckte sich ein Labyrinth verfallener Nebengebäude ins hohe Gras wie Grabsteine um eine Dorfkirche. Mehrere dieser Gebäude, die noch nicht mal einen richtigen Fußboden hatten, beherbergten den Überschuss an Büchern aus dem längst vernichteten, viel grö ßeren georgianischen Vorgängerbau. Nun boten die provisorischen, schlecht beleuchteten Baracken, in denen sich einst die Reparaturwerkstätten des Autohauses befunden hatten, reihenweise ungewollten Büchern Platz, auf deren Rücken man
die Themengebiete aufgeklebt hatte: Geschichte, Geographie, Philosophie, Naturwissenschaften. Die alten Garagen, in denen es immer noch nach ranzigem Motoröl, Rost und primitiven Wasserklosetts müffelte, hießen im allgemeinen Sprachgebrauch »das Magazin« - und ich wusste auch, warum! Ich kam oft zum Lesen her, denn abgesehen von meinem Chemielabor auf Buckshaw war mir das Magazin der liebste Ort auf der ganzen Welt.
Daran dachte ich, als ich vor dem Eingang stand und am Türknauf drehte.
»Scheibenkleister!«, entfuhr es mir. Es war abgeschlossen.
Erst als ich beiseitetrat, um durchs Fenster zu spähen, erblickte ich das Schild hinter der Scheibe, auf das jemand mit schwarzem Stift »Geschlossen« gekritzelt hatte.
Geschlossen? Heute war Samstag! Die Bücherei war donnerstags bis samstags von 10 bis 14.30 Uhr geöffnet. So stand es auch unmissverständlich auf dem schwarz gerahmten Schild an der Tür. War Miss Pickery etwas zugestoßen?
Ich rüttelte erst an der Tür, dann trommelte ich mit der Faust dagegen. Schließlich legte ich die Hände noch einmal an die Scheibe und spähte hindurch, aber bis auf einen einsamen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Staubflusen bahnte, ehe er sich auf den Regalen mit den Romanen niederließ, war nichts zu erkennen.
»Miss Pickery!«, rief ich, bekam aber keine Antwort.
»Scheibenkleister!«, schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche.
Nein … acht Tage die Woche!
Miss Pickery wohnte in der Shoe Street. Ich ließ mein Fahrrad vor der Bücherei stehen und nahm eine Abkürzung. Wenn
man zwischen den Baracken und hinter dem Dreizehn Erpel entlangging, kam man gleich neben ihrem Häuschen heraus.
Ich stapfte durch das hohe, nasse Gras und gab Acht, dass ich nicht über irgendwelche rostigen Maschinenteile stolperte, die hier und da wie Dinosaurierknochen in der Wüste Gobi aus dem Boden ragten.
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