Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Mountjoy ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und sah mich mit großen Augen an, als wäre ich soeben aus einer anderen Dimension vor ihr materialisiert.
»Wer bist du, Kleine?«, fragte sie tonlos. »Warum bist du hergekommen? Wie heißt du?«
»Flavia.« An der Tür blieb ich kurz stehen. »Flavia Sabina Dolores de Luce.« »Sabina« stimmte, aber »Dolores« hatte ich mir gerade eben ausgedacht.
Bevor ich es aus seiner rostigen Vergessenheit erlöste, hatte mein treues altes BSA-Rad jahrelang zwischen Blumentöpfen und hölzernen Schubkarren in einem Geräteschuppen gestanden. Wie manch anderes bei uns auf Buckshaw hatte es einmal Harriet gehört. Sie hatte es seinerzeit l’Hirondelle genannt: die Schwalbe. Ich hatte es umgetauft, und jetzt hieß es Gladys.
Gladys’ Reifen waren platt gewesen, ihre Gangschaltung hatte nach Öl gelechzt, aber mit der zugehörigen Luftpumpe und der schwarzen Lederwerkzeugtasche hinter dem Sattel war sie bestens ausgerüstet. Mit Doggers Hilfe hatte ich sie alsbald tipptopp aufgemöbelt. Obendrein hatte ich in dem Schuppen eine Broschüre mit dem Titel Fahrradfahren für Frauen jeglichen Alters gefunden, verfasst von einer gewissen Prunella Stack, »Vorsitzende des Damenvereins zur Pflege von Gesundheit und Schönheit«. Auf dem Einband stand mit schwarzer Tinte und in einer schönen, geschwungenen Handschrift: Harriet de Luce, Buckshaw.
Manchmal war Harriet gar nicht tot - dann war sie überall.
Als ich im Affentempo vorbei an den schiefen, moosbewachsenen Grabsteinen im überfüllten Friedhof von St. Tankred durch enge, baumbestandene Sträßchen, über die kreidige Hauptstraße und dann über Land heimwärts radelte, ließ ich Gladys freien Lauf. Sie sauste bergab, dass die Hecken nur so vorbeiflitzten, wobei ich mir immer vorstellte, ich sei die Pilotin einer jener Spitfires, die noch vor fünf Jahren wie Schwalben über dieselben Hecken hinweggesaust waren, um drüben in Leathcote zu landen.
Der Broschüre hatte ich entnommen, dass ich, wenn ich in kerzengerader Haltung radelte wie Miss Gulch im Film Der Zauberer von Oz, mir eine abwechslungsreiche Gegend aussuchte und nie vergaß, tief durchzuatmen, vor Gesundheit glühen würde wie der Leuchtturm von Eddystone und niemals Pickel bekäme. Diesen überaus wertvollen Hinweis hatte ich natürlich unverzüglich an Ophelia weitergegeben.
Ob es wohl auch eine Broschüre mit dem Titel Fahrradfahren für Männer jeglichen Alters gab oder gegeben hatte? Und wenn ja, ob sie wohl vom Vorsitzenden des »Herrenvereins für Gesundheit und Attraktivität« verfasst worden war?
Ich tat oft so, als sei ich der Sohn, den sich Vater bestimmt immer gewünscht hatte: der Sohn, den er zum Lachsfischen und zur Moorhuhnjagd nach Schottland mitnehmen konnte, den er nach Kanada schicken konnte, damit er dort Eishockey spielen lernte. Nicht dass Vater selbst irgendetwas dergleichen unternommen hätte, aber ich malte mir gern aus, dass er es vielleicht als Vater eines Sohnes getan hätte.
Mit zweitem Vornamen hätte ich wie er Laurence geheißen, und unter uns Männern hätte er mich gewiss Larry genannt. Wie enttäuscht er gewesen sein musste, als er ein Mädchen nach dem anderen bekam.
War ich zu gemein zu dieser Schreckschraube Miss Mountjoy
gewesen? Zu rachsüchtig? Hätte ein Larry de Luce mehr Mitgefühl gezeigt?
»Zum Teufel, niemals!«, brüllte ich dem Wind entgegen und sang aus voller Kehle:
Umba-tschukka! Umba-tschukka
Umba-tschukka-Buum!
Trotzdem fühlte ich mich Lord Baden Powells idiotischen Pfadfindern nicht mehr verbunden als Prinz Ali aus dem Morgenland.
Ich war ich. Ich war Flavia. Und ich fand mich toll, auch wenn ich da die Einzige war.
»Hoch lebe Flavia! Flavia für immer und ewig!«, johlte ich, als Gladys und ich mit Höchstgeschwindigkeit durchs Mulford-Tor und in die von Kastanienbäumen gesäumte Auffahrt nach Buckshaw sausten.
Das prächtige, kunstvoll aus schwarzem Schmiedeeisen gefertigte Tor mit den dräuenden Greifen hatte einst das Nachbaranwesen namens ›Batchley‹ geziert, Stammsitz der »Elenden Mulfords«. Um 1760 gelangte das Tor nach Buckshaw, als ein gewisser Brandwyn de Luce - nachdem einer der Mulfords mit seiner Ehefrau durchgebrannt war - es bei den Nachbarn abbauen ließ und einfach mitnahm.
Mit diesem Tausch Eheweib gegen Eingangstor (»Das prächtigste diesseits des Paradieses«, hatte Brandwyn in seinem Tagebuch vermerkt) schien die Angelegenheit
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