Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
würde ich garantiert Kopfschmerzen bekommen.
Dann entdeckte ich es:
Beliebter Lehrer tödlich verunglückt
Bei einem tragischen Unfall am Montagmorgen stürzte
Grenville Twining, MA (Oxn.), 72, allgemein beliebter
und geachteter Lateinlehrer und Hausleiter im Grey
minster-Internat bei Hinley, vom Glockenturm des Anson
House zu Tode. Gut informierte Quellen bezeichnen den
Unfall als »reinweg unerklärlich«.
»Er ist auf die Brüstung geklettert, hat seinen Umhang um
sich gezogen und mit den Handflächen nach unten den
römischen Gruß an uns gerichtet. ›Vale!‹, hat er zu den
Jungen in den Hof hinabgerufen«, schildert uns Timothy
Greene aus der sechsten Klasse von Greyminster den Her
gang. »Dann ist er auch schon runtergesaust!«
» Vale «? Mir stockte das Herz. Genau dieses Wort hatte mir der Sterbende ins Gesicht geröchelt! »Gehab dich wohl.« Das konnte doch kein Zufall sein! Dazu war es viel zu absurd. Es musste irgendeinen Zusammenhang geben - aber welchen?
Mist! Mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf, aber mein Verstand trat auf der Stelle. Die Garage war kein geeigneter Ort zum Nachdenken, das musste ich auf später verschieben.
Ich las weiter:
»Mit dem flatternden Umhang sah er aus wie ein fallender
Engel«, schluchzte der rotwangige Toby Lonsdale, der von
seinen Kameraden weggeführt werden musste, ehe er kurz
darauf völlig zusammenbrach.
Mr Twining war erst kürzlich im Zusammenhang mit ei
ner gestohlenen Briefmarke von der Polizei vernommen
worden. Dabei hatte es sich um eine einzigartige und ex
trem wertvolle Variante der Penny Black, der Schwarzen
Queen Victoria gehandelt.
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, behauptet
Dr. Isaac Kissing, der seit 1915 Direktor von Greyminster
ist. »Nicht im Mindesten. Mr Twining war ein geschätzter
Kollege, und alle, die ihn kannten, hatten ihn, wenn ich
das so sagen darf, tief ins Herz geschlossen.«
Der Hinley-Kurier hat in Erfahrung gebracht, dass die
Ermittlungen der Polizei sowohl in Mr Twinings Fall
als auch in dem der gestohlenen Briefmarke fortgeführt
werden.
Die Ausgabe war vom 24. September 1920.
Ich legte die Zeitung wieder ins Regal zurück, ging nach draußen und schloss ab. Als ich den Schlüssel zurückbrachte, saß Miss Mountjoy immer noch untätig am Tresen.
»Na, bist du fündig geworden, mein Liebes?«, erkundigte sie sich.
»Ja«, antwortete ich und tat so, als müsste ich mir übertrieben viel Staub von den Händen wischen.
»Darf ich fragen, was du eigentlich gesucht hast?«, fragte sie verschämt. »Vielleicht kann ich dir ja irgendwelche ergänzende Literatur empfehlen.«
Sollte heißen: Sie platzte vor Neugier.
»Nein, danke, Miss Mountjoy«, antwortete ich.
Aus unerfindlichen Gründen kam ich mir plötzlich vor, als hätte man mir das Herz herausgerissen und durch einen Bleiklumpen ersetzt.
»Geht’s dir nicht gut, mein Liebes? Du siehst ein bisschen spitzmäusig aus.«
Spitzmäusig? Mir war speiübel!
Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht auch der unbewusste Versuch, gegen die Übelkeit anzukämpfen, aber ich
hörte mich zu meinem eigenen Entsetzen herausplatzen: »Haben Sie schon mal von einem gewissen Mr Twining gehört? Er war Lehrer in Greyminster.«
Sie schnappte nach Luft. Ihr Gesicht wurde erst rot und dann grau, als wäre sie vor meinen Augen in Flammen aufgegangen und zu einem Häufchen Asche verbrannt. Dann zog sie ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, zerknüllte es und stopfte es sich in den Mund. So saß sie einen Augenblick lang stumm da, wiegte sich hin und her und biss auf ihr Spitzentaschentuch wie ein Seemann im 18. Jahrhundert, dem man gerade das Bein unterhalb des Knies amputiert.
Irgendwann sah sie mich mit tränenerfüllten Augen an und entgegnete mit zittriger Stimme: »Mr Twining war der Bruder meiner Mutter.«
6
W ir tranken Tee. Miss Mountjoy hatte irgendwo einen zerbeulten Wasserkessel ausgegraben und nach einer Expedition in ihre voluminöse Handtasche ein schmuddeliges Päckchen Schokokekse zutage gefördert.
Ich saß auf der Bibliotheksleiter und nahm mir noch einen Keks.
»Es war tragisch«, erzählte Miss Mountjoy. »Mein Onkel war seit Menschengedenken, so kam es einem jedenfalls vor, Hausleiter im Anson House. Er war sehr stolz auf sein Haus und seine Jungen. Keine Mühe war ihm zu viel, wenn es darum ging, sie anzuspornen, damit sie ihr Bestes gaben, und sie auf den Ernst des Lebens vorzubereiten.
Er machte immer
Weitere Kostenlose Bücher