Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
gemacht?«
»Ich bin wieder reingegangen und habe Dogger geholt. Alles Übrige wissen Sie ja schon.«
Moment mal … ich wusste zwar, dass Dogger dem Inspektor nicht von dem Streit zwischen Vater und Horace Bonepenny erzählt hatte, den wir gemeinsam belauscht hatten, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Dogger dem Inspektor erzählt hatte, dass ich ihn um vier Uhr morgens geweckt hätte, ohne dabei zu erwähnen, dass ich jemanden umgebracht hatte. Oder?
Ich musste Zeit schinden und das Ganze noch einmal überdenken.
»Sich gegen einen Angreifer zu wehren, ist noch kein Mord«, sagte der Inspektor.
»Nein«, erwiderte ich, »aber das ist ja auch noch nicht alles.«
Ich ging in Windeseile meine geistigen Karteikarten durch: noch unbekannte Gifte (zu langsam); tödliche Hypnose (dito); geheime und unerlaubte Jiu-Jitsu-Griffe (unwahrscheinlich, zu schwierig zu erklären). Mir dämmerte, dass es gar nicht so leicht war, ein Märtyrer zu sein. Schlagfertig zu sein genügte nicht, hier war echtes Genie gefragt.
»Es ist mir zu peinlich«, setzte ich rasch hinzu.
Im Zweifelsfall immer auf Gefühle zurückgreifen!, dachte ich, und war sehr stolz auf mich, dass mir das eingefallen war.
»Hmmm«, machte der Inspektor. »Lassen wir es für heute gut sein. Hast du Dogger erzählt, dass du den nächtlichen Eindringling umgebracht hast?«
»Ich glaube nicht. Dafür war ich viel zu aufgeregt.«
»Hast du es ihm irgendwann danach erzählt?«
»Nein. Ich dachte, das verkraften seine Nerven nicht.«
»Tja, das ist ja alles sehr interessant«, sagte Inspektor Hewitt, »aber die Einzelheiten sind doch ein wenig dürftig.«
Ich begriff, dass ich am Rand eines Abgrunds stand. Nur noch einen Schritt weiter, und es würde kein Zurück mehr geben.
»Da ist noch etwas, aber …«
»Aber?«
»Ich sage kein Wort mehr, wenn Sie mich nicht mit meinem Vater sprechen lassen.«
Inspektor Hewitt sah aus, als wollte er etwas schlucken, was nicht richtig rutschen wollte. Er machte den Mund auf und wieder zu. Er schluckte schwer, dann tat er etwas, wofür ich ihn ehrlich bewunderte und das ich mir für meine eigene Trickkiste merken musste: Er holte sein Taschentuch heraus und verbarg seine Verblüffung hinter einem vorgetäuschten Niesen.
»Und zwar unter vier Augen«, ergänzte ich.
Der Inspektor putzte sich laut prustend die Nase und trat wieder ans Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ins Unbestimmte blickte. Mittlerweile kannte ich das schon und wusste, dass er angestrengt nachdachte.
»Na schön«, sagte er unvermittelt. »Komm mit!«
Ich sprang eifrig vom Stuhl und folgte ihm. An der Tür versperrte er mir mit dem Arm den Weg in den Flur, drehte sich um und ließ die andere Hand sanft wie eine Feder auf meine Schulter schweben.
»Ich mache jetzt etwas, das ich vielleicht noch einmal bitter bereuen werde«, verkündete er. »Ich setze meine Karriere aufs Spiel. Lass mich bloß nicht hängen, Flavia. Lass mich bloß nicht hängen.«
»Flavia!«, rief Vater erstaunt aus. Dann verdarb er alles, indem er sagte: »Bringen Sie das Kind weg, Inspektor, ich bitte Sie. Bringen Sie meine Tochter weg.«
Er wandte sich von mir ab und drehte sich zur Wand.
Die Tür zur Arrestzelle war zwar gelblich lackiert, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie aus Metall war. Nachdem der Inspektor aufgeschlossen hatte, sah ich, dass die Zelle nicht größer war als ein kleines Büro mit Pritsche zum Herunterklappen und einer überraschend sauberen Spüle. Gnädigerweise hatte man Vater nicht in einen dieser vergitterten Käfige gesteckt, die ich zuvor erblickt hatte.
Inspektor Hewitt nickte mir kurz zu, als wollte er sagen: »Jetzt liegt’s an dir!«, dann ging er hinaus und schloss leise die Tür. Ich hörte keinen Schlüssel, der sich im Schloss drehte, und auch keinen Riegel, der vorgeschoben wurde, allerdings blitzte und donnerte es auf einmal draußen, weshalb ich es vielleicht nur überhört hatte.
Vater hatte offenbar angenommen, der Inspektor hätte mich wieder mitgenommen, denn als er sich umdrehte, fuhr er erschrocken zusammen.
»Geh nach Hause, Flavia«, sagte er.
Obwohl er so kerzengerade dastand, als hätte er einen Spazierstock verschluckt, klang er alt und müde. Er spielte anscheinend den unverwüstlichen Briten, der durch nichts zu erschüttern ist, und es versetzte mir einen Stich, als ich merkte, dass ich ihn dafür liebte und zugleich verabscheute.
Ich zeigte zum Fenster.
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