Flegeljahre am Rhein
Pause.
Mathilde liest vier oder fünf Zeilen. Läßt das Buch wieder sinken. Blickt auf Männe.
„Ist es vielleicht möglich, daß Waldi...?“
„Aber, Kind, ich bitte dich... „
Pause.
Mathilde liest sechs oder sieben Zeilen. Legt das Buch wieder beiseite. Sieht abermals auf Männe, steht langsam auf, legt ihren Roman auf den Tisch, blickt dann ganz lieb und voller Seligkeit auf Tithemi.
„Männe, ich gehe schlafen... Bitte, komme bald nach, ja...?“
„Bitte, Kind, du weißt doch, daß heute erst...“ Pause.
Endlose Pause. Schließlich:
„Muß denn bei dir a l l e s nach Fahrplan gehen, Männe?“
Von Waldi noch immer keine Spur.
☆
Die Schwarze Hand ist noch allein auf dem Posten. Fritz räumt schon leere Biergläser weg, entleert übervolle Aschenbecher. Krischans Mähne steht auf Sturm. Sauerbrunnen hat noch ein Brötchen, aber keinen Appetit mehr. Gupp ist eben erst gegangen. Die letzte Viertelstunde hat er nur davon gesprochen, daß er sich maßlos verliebt habe. „Und dazu bin ich alter Idiot nun nach Rheinstadt gekommen! Ein hübsches Mädel, einfach fabelhaft!“
Gupp, was sind das für Geschichten? Er ist schon auf dem Wege zu seiner finsteren Bude. Über Abwesende soll man nicht reden.
Wenn einer verstehen will, was die sechs „Verschwörer“ der Schwarzen Hand jetzt erzählen, der muß schon ganz scharf die Ohren spitzen. Erzählen ist gar nicht der richtige Ausdruck. Kann man es „erzählen“ nennen, wenn alles wirr durcheinander redet, wenn jeder mit sich und gleichzeitig mit den fünf anderen spricht? Und außerdem, sie haben das Gefühl, daß der Tisch ein wenig wak-kelt, daß die Tür da hinten samt ihren Angeln verrutscht... In ihrer Bierseligkeit kommen sie sich unendlich kühn und schlau und groß vor. Nach einer halben Stunde ist Willi II dafür, daß man nach Hause geht. Gamaschke ist auch der Ansicht, Sauerbrunnen nickt Beifall. Bobby schließt sich der Mehrheit an, und die beiden letzten, Civilis und Krischan, fügen sich der Allgemeinheit. Die Straßen liegen wie ausgestorben. Irgendwo ein müder Schritt. Das ist alles. Dann aber wird es für einen Augenblick recht lebhaft. Dort, wo das
Gasthaus „Zum Vater Rhein“ liegt, machen sich plötzlich einige Stimmen sehr bemerkbar. Nicht so laut, Herrschaften! Ihr stört die Ruhe der Stadt, die schon vor ein paar Stunden schlafen gegangen ist!
Die sechs verabschieden sich. Nur Krischan und Civilis bleiben zusammen, weil Civilis bei ihm auf der Couch pennt. Gamaschke möchte gerne noch irgendwo ein Ständchen bringen. Vielleicht auch mehr als das. Der Teufel soll es holen, da fällt ihm ein, daß Ännchen dann wieder Ärger mit den Eltern hat.
Der Weg zu Krischans Bude führt von Theobald aus am Gymnasium vorbei. Das heißt, zuerst an einem kleinen Vorgarten, durch den die Herren Magister an ihren separaten Eingang kommen. Der kleine Vorgarten ist das Steckenpferd von Tithemi. Schöne Blumen hat er dort pflanzen lassen. Fize muß streng darüber wachen, daß sie gut gepflegt und oft begossen werden. Niemand würde es wagen, je auch nur eine kleine Blume abzupflücken.
„Du, Krischan, schau’ mal! Was ist denn das...?“ Krischan erspäht es auch.
Sehen sie Gespenster in dem kleinen Garten? Nein, aber den emsigen Wühler da — den kennen sie doch...? Der kleine Köter, dackelähnlich, tapst durch die Blumen. Er hat schon tüchtig aufgeräumt in dem kleinen Garten und viele Blumenköpfe abgebissen. Krischan und Civilis treten ganz nahe an das meterhohe Gitterchen heran, das den Garten von der Straße trennt.
„Komm’, Waldi... komm’ schön!“
Ist es auch wirklich Waldi?
Den beiden ist nicht mehr ganz zu trauen.
Doch, es ist wirklich Waldi. Er kommt auf sie zugedackelt, tatscht mit den Vorderpfoten am Gitter hoch und winselt — traurig oder erfreut? Waldi! Den Namen von Tithemis Hund kennt schon jeder Sextaner, ehe er die erste Deklination im Lateinischen kapiert hat.
Krischan freut sich seiner Idee: Er hat schon das Gittertörchen geöffnet, ehe Civilis versteht, was sein Kumpel will. Civilis soll aufpassen, daß keiner kommt. Krischan ist im Vorgärtchen, lockt Waldi, hat ihn schon auf seinem Arm, ist wieder auf der Straße. Zum Glück hat Civilis eine Kordel bei sich. Waldi wird angebunden und marschiert treu und brav neben den beiden her. Waldi wundert sich nur, daß seine Herrchen im Zickzack über die Straße gehen, einmal nach rechts, einmal nach links, mit ungleich langen Schritten — gar nicht
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