Flegeljahre am Rhein
oft zu diesem Kreisblatt. Er kennt sich dort gut aus, er schreibt dann und wann Berichte für diese Zeitung, er hat dort schon manche Mark verdient. Aber nie hat er es so eilig gehabt wie jetzt eben.
„Mensch, Krischan, ich bin mal gespannt, wie sich die Anzeige ausmacht!“
Die neue Ausgabe hängt bereits im Kasten der Geschäftsstelle und ist längst schon unterwegs in alle Häuser von Rheinstadt, ist längst schon auf dem Wege in alle Dörfer des Kreises. Gamaschke und Krischan stellen sich vor den Kasten. Dort — die Anzeigenseite! Da, groß, mit fettem Rand, an erster Stelle der Seite, vielspaitig auf gemacht:
Heute, 8.30 Uhr:
Großer Festabend
in der
Aula des Gymnasiums
Es spricht
Studienrat Balduin Lehrmann
über moderne Pädagogik.
(Kein trockener Vortrag)
Fräulein Klothilde Lehrmann
spielt dazu auf dem Flügel lyrische Soli
Alle Eltern der Schüler, alle Freunde und Gönner der Anstalt sind herzlichst eingeladen. Die Teilnahme der oberen Klasse ist Pflicht. Getränke werden keine verabreicht.
Um recht lebhafte Beteiligung bittet:
das Gymnasium
Gamaschke fiebert am ganzen Körper. Krischan möchte vor Freude die Scheibe des Zeitungskastens einschlagen.
„Was, Junge, das ist ein Ding! Der Spaß ist seine 12,60 Mark wert. Keiner darf je erfahren, wer die Anzeige aufgegeben hat. Die Zeitung weiß es auch nicht — dafür habe ich gesorgt. Los, Krischan, das ist ein Glas Bier wert! So eine Sache drehen wir nicht alle Tage...“
Die Sache ist nicht ein Glas Bier wert. Krischan hat das gesagt. Die Sache ist mindestens dreimal soviel wert. Krischan hat sie bezahlt.
☆
Bei Bruno sitzt man zu Tisch. Frau Studienrat hat eben den Rheinstädter Anzeiger aus der Hand gelegt, weil Minna, Küchenfee im Hause Bruno, die Suppe aufträgt.
„Bruno, ich verstehe dich nicht! Weshalb kannst d u diesen Vortrag nicht halten? Du besitzt überhaupt keinen Ehrgeiz! Denke doch daran, was die Leute sagen würden! Du bist doch so ein...“
„Glänzender Redner, ich weiß... Mir bitte viel Suppe, Minna — so, danke! Ich möchte nur wissen, was plötzlich mit Lehrmann los ist. Wir werden natürlich hingehen. Hilde, du kommst doch mit?“
„Hallo — ah, guten Morgen, Herr Apotheker! Ja, hier Doktor Düpper. Sagen Sie mal, was ist denn in unseren Lehrmann gefahren? Haben Sie gelesen? Ja, ja, da macht man Augen. Wir gehen natürlich hin. Gut, ich hole Sie ab... Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin!“
☆
„Nehmen Sie besser diese Feder, Herr Lehrer. Die ist nicht so breit. Fünf Stück — bitte sehr. Das macht zwanzig Pfennige...“
Gabriel ist nicht etwa nur Buchhändler. Er führt auch Schreibwaren. Der Herr Lehrer steckt das Tütchen mit den fünf Schreibfedern in die Westentasche.
„Haben Sie schon gehört, Herr Lehrer? Heute abend ist im Gymnasium ein großer Vortrag. Studienrat Lehrmann spricht über moderne Pädagogik. Das ist doch sicher etwas für Sie!“
„Wie? Im Gymnasium? Was d i e schon wieder besser wissen wollen, als wir in der Volksschule!“ Gabriel hat die Zeitung aufgeschlagen.
„Hier, da steht es...“
Ein guter Kaufmann wie Gabriel verkauft nicht nur. Er sorgt auch für Beziehungen und tut etwas für die Bildung.
☆
Pst! Nicht stören! Einen Verzweifelten soll man durch Fragen nicht noch verzweifelter machen! Tithemi geht händeringend in dem Studierzimmer seiner Wohnung auf und ab. In seinen Händen hält er den „Rheinstädter Anzeiger“. Um ihn her geistern Gespenster. So etwas! So etwas! Tithemis Schritte werden länger. Die ganze Stadt wird über seine Anstalt lachen.
Tithemi wirft die Zeitung auf den Boden, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. So etwas! Wer kann das nur gewesen sein? Tithemi geht an das Telefon. Wählt den „Rheinstädter Anzeiger“. Die Redaktion weiß von nichts. Anzeigen gehen sie nichts an. Die Anzeigenabteilung hat Mittagspause. Tithemi knallt den Hörer hin. So etwas! So etwas!
Vorsichtig wird die Türe geöffnet.
„Männe...“
„Ich habe keinen Hunger! Störe mich nicht!“ Mathilde weiß, was die Uhr geschlagen hat, und schließt vorsichtig die Türe.
Tithemi sinkt in einen Sessel. Vor seinen Augen flimmert es. Heute abend soll das sein! Die ganze Stadt hat es gelesen. Tithemi springt wieder auf, tritt an seinen Schreibtisch, sucht etwas, findet es nicht. So etwas! So etwas!
Leiser als vorhin geht die Türe wieder auf. „Männe....?“
☆
„Mama! Mama! Sieh mal..
Klothilde kommt ganz aufgeregt angelaufen. Emma ist
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