Flegeljahre am Rhein
Fakultät, die Leuchten der Antike, schon der alte Homer .. Die Kameraden sollen sich ein Beispiel daran nehmen: sie sollen gefälligst trinken. Der Wirt will schließlich auch leben, sehr richtig, und der Fritz macht gerne den Weg zum Zapfhahn. So etwas hört die Klasse natürlich gern. Wenn das der gute Schwamm sähe! Die meisten, achtzehn und neunzehn Jahre alt, und dann... Civilis will sich heute vor lauter Wut besaufen. Unter uns, Wut ist es eigentlich nicht. Aber Civilis will nicht, daß darüber gesprochen wird.
Hilde...? Vielleicht.
☆
In dem Augenblick, da Civilis ein neues Bier bekommt, geschieht im Hause Tithemi etwas Schreckliches. Das heißt, es geschieht nicht mehr — es ist schon geschehen. Etwas, das noch nie dagewesen ist. Etwas, das... es ist einfach nicht vorzustellen. Mathilde ist außer sich und der Ohnmacht nicht mehr fern. Tithemi trägt es mit Würde.
„Ruhig, mein Kind, es wird schon wieder alles gut.“
Wenn Männe es sagt, wird es so sein.
Was ist denn geschehen? Nun fragen Sie doch nicht! Mathilde kann es nicht mehr hören.
Vor einer halben Stunde war er doch noch da. Nun ist er weg. Einfach verschwunden.
Waldi ist nicht mehr da. Nicht im Garten. Nicht auf dem Speicher. Nicht in der Küche. Waldi, bist du im Keller? Auch da ist er nicht. Waldi, wo steckst du denn? Nicht im Schlafzimmer. Nicht im Vorratskeller.
Herr Nachbar, haben Sie vielleicht einen braunen Hund gesehen? Richtig, den dackelähnlichen... Nein, der Herr Nachbar hat ihn auch nicht gesehen.
Vielleicht hat der andere Herr Nachbar...? Auch der weiß nichts von Waldi.
„Mathilde, Haltung! Waldi wird schon wiederkommen!“ Tithemi weiß nicht mehr, wie er seine Frau trösten soll. „Um Gottes willen, Mathilde! Benimmt sich so die Gattin des Direktors des Gymnasiums zu Rheinstadt?“
Männe hat recht.
Mathilde soll sich auf das Sofa setzen.
Männe wird die Polizei anrufen.
„Was hat die denn damit zu tun?“
Männe läßt es sein.
Tithemi ist wirklich ein ganzer Männe: Er setzt sich zu ihr auf das Sofa, liest in seinem Philologenblatt. Mathilde rechnet die Jahre zusammen, in denen Waldi schon im Hause gelebt hat. Und nun soll er...
„Waldi wird schon wiederkommen.“
Wenn Männe es sagt, stimmt es. Was er sagt, ist immer richtig.
☆
„Prost, Kameraden!“
Doktorchen will eine Rede halten.
Bravo.
Doktorchen fühlt sich jung und freut sich... Bravo, bravo.
Doktorchen „will es sich nicht nehmen lassen“, eine zweite Runde zu spenden.
Bravissimo.
Die Klasse singt wieder. Nicht schön, aber laut. Krischan knabbert an einer dicken Zigarre. Rauchen kann er sie nicht. Aber qualmen tut sie. Sauerbrunnen sorgt für Unterlage und packt ein Brötchen aus. Unterlagen wären auch für andere gut. Es ist erst elf Uhr, und man denkt noch nicht daran, Schluß zu machen. Gamaschke will noch eine große Sache verkünden. Die Schwarze Hand hat etwas beschlossen, was in seiner Art noch nie da war, eine Sache, sage ich euch...
„Kameraden! Am nächsten Montag soll Rheinstadt ein Ding erleben, von dem noch Generationen nach uns sprechen werden! Die Oberprima wird wieder einmal zeigen, daß sie ganze Arbeit leisten kann — so und so, ihr versteht mich schon.
Am nächsten Montag müßt ihr euch alle bereit halten. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend Alarm für die Oberprima!“ Vierundvierzig Beine poltern Beifall.
Es geht auf zwölf Uhr zu. Die ersten müssen schon aufbrechen. In zwanzig Minuten geht der letzte Zug. Dumme Sache, wenn man „Fahrschüler“ ist. Das merkt Civilis heute abend ganz besonders. Gut, er wird nicht nach Hause fahren. Krischan hat noch eine Couch auf seiner Bude stehen. Krischans Wirtin hat nichts dagegen, wenn einmal ein Freund auf seiner Bude schläft.
Noch ein Bier. Wieder ein Bier. Doktorchen will sich in bester Erinnerung halten. Fritz, bring’ den Herren noch ein Glas! Doktorchen muß heute früh nach Hause gehen, weil ausnahmsweise seine Frau da ist. Schließlich hat man Verpflichtungen, wenn man eine Frau mit sehr viel Geld geangelt und geheiratet hat...
☆
Tithemi bleibt lange auf heute abend. Er hat einen sehr interessanten Artikel gefunden, mit dessen Inhalt er sich auseinandersetzt. Tithemis Stirn wirft tiefe Denkerfalten. Neben ihm, auf dem Sofa, sitzt noch immer Mathilde und liest in einem dicken Buch. Sie läßt es sinken und sieht auf ihren Männe.
„Glaubst du, daß wir unseren Waldi...?“
„Aber Kind... du siehst doch, daß ich arbeite...“
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