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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ruland
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führt, spielt ihm dafür eine halbe Stunde exzentrische Foxtrotts vor.
    Ein Jammer, daß bei Hoi nichts zu machen ist. Nur einer bewahrt die Ruhe und sitzt ganz still, als ob überhaupt nichts los wäre. Nur einer sieht seelenvergnügt vor sich hin und denkt nicht daran, daß bis zum Ende der dritten Stunde die Arbeit abgegeben werden muß: Gupp.
    Er hat einen großen Plan gefaßt. Er wird heute sein Meisterstück ablegen. Wer führt in der zweiten Stunde der Arbeit die Aufsicht? Schwamm, natürlich. Der müßte planmäßig Deutsch lehren. Dann ist ja alles in bester Butter.
    Gupp zieht seinen Schlips gerade, legt seinen Federhalter, mit dem er bisher Mädchenbeine auf ein Löschblatt gezeichnet hat, in die Rille der Bank, räuspert sich, einmal, zweimal, hebt seinen Finger, läßt den Daumen fest gegen die Handballen schnellen, daß es vernehmlich aufknallt. Hoi achtet nicht darauf. Gupp wiederholt sein Manöver.
    „Ich wünsche keine Frage mehr!“ bellt Hoi.
    Das wäre ja noch schöner...
    „Ich habe hier eine Unklarheit im Text“, behauptet Gupp. „Ich muß mich wohl verhört haben. Ich bitte Sie, einen Augenblick den Originaltext einsehen zu dürfen.“
    Das Buch, aus dem Hoi die Arbeit diktiert hat, liegt auf dem Katheder.
    Gupp ist ein ehrlicher Kerl, ein ruhiger Schüler, man muß auch etwas Rücksicht auf sein Alter nehmen, über sein Pflichtgefühl ist auch nichts Schlechtes zu sagen... „Weshalb soll ich es nicht gestatten?“ überlegt Hoi. „Es liegt keine Gefahr vor, daß dieser Schüler bestimmte Absichten verfolgt.“
    Gupp soll sich also zum Katheder bemühen...
    Die Oberprima kichert und ist sprachlos. Donnerwetter, der Hoi hat aber eine Meinung von Gupp! Einem anderen hätte er nie gestattet, den Text einzusehen.
    Gupp geht ruhig und selbstverständlich zum Katheder, blickt scharf... nein, nicht auf den Text! Gupp interessiert sich für Kapitel- und Abschnittnummer, die er sofort entdeckt. Hoi blickt gerade in eine andere Richtung und weiß nicht, daß Gupp in diesem Augenblick blitzschnell die Titelseite des Buches aufgeschlagen hat, um Werk und Verfasser zu ermitteln.
    Gupp lacht zufrieden, segelt auf seinen Platz zurück. Hoi schüttelt den Kopf. Unglaublich, daß dieser Schüler schon 26 Jahre alt ist! So klein und unscheinbar, so jungenhaft und unkompliziert. Was nun? Gupp erwartet sehnlichst das Ende der Stunde und die Ablösung Hois. Bei ihm die Tat zu vollenden, erscheint zu bedenklich. Nach einigen Minuten ist Gupp erlöst. Hoi ist endlich weg. Schwamm ist da.
    Die Klasse atmet erleichtert auf. Bei Schwamm läßt sich schon etwas machen. Er setzt sich auf das Katheder und liest die Zeitung. Er freut sich immer, wenn er nur Aufsicht führen muß. Deshalb läßt er selbst so viele Klassenaufsätze schreiben. Andere sieht er gerne arbeiten. Er selbst aber... Was ist das nur für eine Unruhe in der Klasse?
    „Etwas ruhiger, etwas ruhiger! Schließlich schreiben Sie ja eine Klassenarbeit, meine Herren!“ Wenn Schwamm „meine Herren“ sagt, kann er leicht ungemütlich werden. Das Getuschel, das sofort beim Eintritt Schwamms in die Klasse einsetzte, ebbt ab. Gupp dagegen ist merklich nervös geworden. Er sucht seit einigen Minuten die Stelle in seinen kleinen Büchern, die er für die Arbeit braucht: Tacitus, Historien. Das richtige Bändchen, in dem die Übersetzung der Historien steht, hat er gleich mit einem sicheren Griff gehabt: Rechte innere Rocktasche, leibwärts. Jetzt sucht er das Kapitel, nun fahndet er nach den Absätzen. Ganz unauffällig muß das geschehen. Schwamm darf nichts sehen.
    Da erhebt sich Schwamm von seinem Katheder-Thron. Gupp läßt die Übersetzung schnell an ihren Platz verschwinden. Schwamm streckt beide Arme, wie zum lauten Gähnen, von sich, macht eine Kniebeuge, um seine Hose wieder in die richtige Form zu weisen, zieht seine Uhr auf, macht sich auf den Weg durch die Klasse.
    Gupp ist in Nöten. Wenn Schwamm sich nicht wieder hinsetzt, ist es aus. Nein, Schwamm setzt sich nicht wieder hin, und es ist doch nicht aus...
    „Ich bitte austreten zu dürfen!“
    Gupp ist einfach aufgestanden, er hat nicht erst lange aufgezeigt. Um die Dringlichkeit zu betonen.
    „Das kann während der Klassenarbeit nicht erlaubt werden!“
    Beschwörend:
    „Es muß sein, Herr Studienrat! Es ist nicht zu umgehen!“
    Die Klasse lacht auf. Für drei Sekunden ist Tacitus vergessen. Und doch nicht ganz. Die Sekunden des Lachens haben einige ausgenutzt, um schnell vom Hinter-,

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