Fleisch und Blut
Was dazu passt, dass Jane nicht mitteilsamer war, weil sie im Besitz explosiver Informationen war. Ob so oder so, den Mord Abbot in die Schuhe zu schieben erscheint ausgesprochen praktisch.«
»Sagen wir rein theoretisch, Lyle hat sie erschossen. Er taucht hier auf, und Jane lässt ihn einfach ins Haus?«
»Das könnte sein. Selbst bei aller Feindseligkeit existierte dieses frühe Band zwischen ihnen - die Jahre, die sie zusammengelebt haben, Vertrautheit, eine gewisse Anhänglichkeit. Ich habe das im Zusammenhang mit Sorgerechtsfällen oft beobachtet. Die hässlichsten Scheidungen. Zwei Menschen versuchen sich gegenseitig vor Gericht die Herzen rauszureißen, und wenn sie sich dann allein sehen, enden sie miteinander im Bett. Vielleicht hat Lyle die große Trauer-Show abgezogen - das ist die eine Sache, die sie miteinander verbindet. Laurens Tod. Vielleicht hatte er nicht mal die Absicht, sie zu töten, als er hier ankam. Sie fangen an zu reden, Lyle kommt schließlich aufs Geld zu sprechen, wie er es bei dir getan hat, Jane verliert die Fassung, und eins führt zum ändern.«
»Und warum atmet der alte Mann dann noch?«
»Weil Lyle zwar nicht gerade ein Genie ist, aber eine Eingebung hatte. Du musst es dir so vorstellen: Der Streit beginnt im Erdgeschoss. Jane sagt Lyle, er solle verschwinden, und er weigert sich. Sie läuft nach oben, um sich im Schlafzimmer einzuschließen und die Polizei anzurufen. Lyle läuft hinter ihr her, verschafft sich Zugang zum Schlafzimmer und erschießt sie. Es ist dunkel, sie könnten in der Nähe des Betts um die Waffe gekämpft haben - daher das Loch in der Wand. Diesmal hat er sie verfehlt, aber dann trifft er sie zweimal, und Jane geht zu Boden. Abbot schläft - möglicherweise tief, er bekommt wahrscheinlich Schlafmittel. Der erste Schuss weckt ihn. Er setzt sich auf. Desorientiert. Ein seniler alter Mann ist plötzlich von großem Lärm und Dunkelheit umgeben. Sein Bewusstsein ist ohnehin getrübt. Er würde nicht sofort gesehen haben - wo war seine Brille?«
»Auf seinem Nachttisch.«
»Er könnte gar nichts gesehen haben. Lyle entdeckt ihn, überlegt, ob er ihn töten soll, begreift, dass Abbot keine direkte Bedrohung für ihn darstellt, und hat eine bessere Idee: die Waffe neben oder in Abbots Hand legen und das Haus still verlassen. Vielleicht hat er Abbots Finger sogar gegen den Abzug gedrückt, und das Loch in der Wand ist auf diese Weise entstanden. Selbst wenn Abbot wieder einen klaren Kopf bekommt und sich an ein paar Einzelheiten erinnert - wer würde ihm glauben? Wie sähe seine Geschichte aus? Ein geheimnisvoller Eindringling, ohne dass es Anzeichen für einen gewaltsamen Zutritt gibt? Ein Schreckgespenst, das seine Waffe zurücklässt? Aber ich wette, dass Abbot sich an nichts erinnert. Er ist weg vom Fenster. Nach ein paar Tagen auf der Gefangenenstation im County Hospital vegetiert er wahrscheinlich nur noch vor sich hin.«
An der Vorderseite des Hauses schlug eine Tür zu. Wir machten einen Schritt nach vorn und sahen, wie die Sanitäter Abbot hinaustrugen. Der alte Mann lag mit geschlossenen Augen und offenem Mund festgeschnallt auf der Trage. Als die Sanitäter ihn quer über die Zufahrt trugen, plauderten sie und machten einen entspannten Eindruck. Ihre Fracht stellte keine Bedrohung dar. Nachbarn reckten die Hälse, als Abbot in den Krankenwagen geschoben wurde. Eine Sirenensonate erklang, während der uniformierte Beamte am Tor einen Weg freimachte, und dann jagte der Krankenwagen davon. Zwei Lieferwagen fuhren vor. Ein weißer mit dem Logo des Gerichtsmediziners auf der Tür wurde durch das Tor gelassen. Der silberne, auf dessen Dach die Rufnummer eines TV-Senders neben einer Satellitenantenne prangte, wurde an den Bordstein gewinkt.
»Die Party beginnt«, sagte Milo. »Wenigstens ist es Ruiz' und Gallardos Party.«
»Ich höre schon die Abendnachrichten«, sagte ich, als ein junger Rotschopf in einem gelben Hosenanzug aus dem Sendefahrzeug stieg. ›»Ein Mann aus Sherman Oaks, der im Verdacht steht, seine Frau ermordet zu haben, wurde heute verhaftet. Nachbarn beschrieben Melville Abbot als freundlichen, aber schwächlichen -‹«
»Die Fakten zeigen immer noch in diese Richtung, Alex.«
»Vermutlich«, sagte ich. »Und Ruiz und Gallardo scheinen nette Jungs zu sein. Warum sollte man ihr Leben komplizierter machen, als es schon ist?«
»Du meine Güte«, sagte er. »Was zum Teufel ist nur in deiner Kindheit vorgefallen und hat dafür gesorgt,
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