Fleisch
allerdings war das Geld knapp. Die Radioshow, die auf mehreren Sendern ausgestrahlt wurde, brachte nicht viel ein. Stotter trauerte den Zeiten nach, als der Komet Hale-Bopp oder Sekten wie Heaven’s Gate im Zentrum des öffentlichen Interesses standen. Wie konnte man wiederholen oder gar übertreffen, was damals geschehen war? Dass sich junge Anhänger nagelneue Nike-Turnschuhe anzogen, ihre Köpfe in Plastiktüten steckten und sich dann hinlegten und auf das Raumschiff warteten, das hinter dem Kometen kommen und sie auf eine höhere Entwicklungsstufe überführen sollte – so etwas Abgefahrenes vermochte man sich gar nicht auszudenken.
Heutzutage konnten sich UFO-Junkies ihren Stoff jederzeit im Internet holen. Sie waren nicht mehr so sehr auf Leute wie Wesley Stotter angewiesen. Aber so wie die Wirtschaft in Konjunkturzyklen verlief, war es auch mit dem Interesse an den Außerirdischen. Je unsicherer und chaotischer die Welt wurde, desto mehr suchten die Menschen nach einer Projektionsfläche für ihre Furcht. Stotters Investition in eine Webcam verhalf der Stottermania zu neuem Leben.
Stotter fuhr mit seinem Bericht für die Radiohörer fort, wobei er die kleinen Leckerbissen aus Geschichte und Mythologie einfließen ließ, die für ihn so typisch waren und die seine Anhänger nur so aufsogen.
„Dies ist heiliger Boden“, sagte er leise und ehrfurchtsvoll und auch ein wenig theatralisch. „Die Cheyenne versteckten sich in den Dünen und überstanden hier den extrem harten Winter 1878/79, als sie von Soldaten von Fort Robinson gejagt wurden. Die wollten sie ins Gefängnis stecken, und als das nicht funktionierte, schlachteten sie über sechzig Männer, Frauen und Kinder ab, genau hier in dieser Gegend. Man sagt, der Dismal River hätte sich von ihrem Blut rot verfärbt. Man kann hier also mit Fug und Recht von heiligem Boden sprechen. Ist es nur ein Zufall, dass eine fremde Zivilisation am Himmel über genau jenem Tal erscheint, aus dem in der Dämmerung die Energie der Geister der Cheyenne aufsteigt? Nein. Das glaube ich nicht.“
Stotters Hände waren nun ruhig, und die Kamera verfolgte die Lichter. Wie lange waren sie schon dort? Sie blieben jetzt schon so lange still an einer Stelle, dass jeder, der sie nun zum ersten Mal sehen würde, sie einfach für Sterne halten musste.
Dann schossen sie auf einmal los, genauso plötzlich, wie sie am Himmel erschienen waren. Es geschah so schnell, dass Stotter nicht rasch genug mit der Kamera hinterherkam. Sie flitzten über ihn hinweg, schossen nach oben und verschwanden wie Meteore, nur dass sie keinen Schweif hinter sich herzogen. Ohne ein Geräusch waren sie verschwunden.
Stotter stand wie festgewachsen an der Seite seines Autos, an die er sich gelehnt hatte. Seinen Kopf in den Nacken gelegt, sein Gesicht dem Himmel zugewandt, den Mund offen. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Flanellhemd an seinem schweißüberströmten Rücken klebte. Sein Bart juckte, und auf seinem kahl werdenden Kopf kribbelte es. Seine Finger zitterten wieder. In seinen Ohren rauschte es, und es fühlte sich an, als wäre ein Stromstoß durch ihn hindurchgefahren. Er warf einen Blick zurück und erwartete, die Blitze ganz in der Nähe zu sehen. Aberdie Gewitterwolken waren immer noch am Horizont. Im Zwielicht sahen sie mehr nach Bergen als nach Wolken aus.
Er meldete sich ab und schaltete sein Mikrofon aus. In diesem Moment hörte er eine Stimme in seinem Auto.
„… alle verfügbaren Rettungskräfte …“
Es war das Gerät, mit dem er den Polizeifunk abhörte. Hatten sie die Lichter auch gesehen?
„… berichten von Verletzungen. Südlich des Forsts am Highway 97 …“
Wesley Stotter fuhr herum und schaute in den Himmel über dem Wald. Es war in der entgegengesetzten Richtung der Lichter, aber es musste irgendwie miteinander zusammenhängen. Das konnte kein Zufall sein!
Er sah auf die Uhr. Stopfte seine Kameraausrüstung zurück in die Tasche. Schlug den Kofferraumdeckel zu, wofür er drei Versuche brauchte. Er war nah genug dran, dass er als einer der Ersten dort eintreffen konnte. Diesmal würde er es sich ansehen können, bevor man es vertuschte.
5. KAPITEL
Maggie kannte den Geruch, aber es war lange her. Verbranntes Fleisch, versengtes Haar. So hatte auch ihr Vater gerochen, als er im Sarg lag. Er war Feuerwehrmann gewesen und im Einsatz ums Leben gekommen. Maggie würde diesen Geruch niemals vergessen, den auch die Plastikfolie, die um seine Arme und Beine gewickelt
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