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Fleisch

Fleisch

Titel: Fleisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Kava
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nun wenigstens nichts mehr mit Kindern zu tun haben. Zu oft hatten die Männer, mit denen sie zusammen war, erwartet, dass sie für ihre Wochenendkinder eine Stiefmutter auf Abruf war. Julia wusste schon seit Langem, dass sie kein Mutterschaftsgen besaß. Schon längst, bevor sie sich ihrer Neigung zu Frauen bewusst geworden war, war ihr klar gewesen, dass sie niemals Kinder haben wollte.
    Sie gab es nicht zu, aber Kinder gingen ihr auf die Nerven. Sie hatte nicht die Geduld für ihre Anfälle von Überschwänglichkeit, oder, auf der anderen Seite des Spektrums, für ihr ständiges Jammern. Nachdem ihre neue Freundin gesehen hatte, wie unwohl sich Julia mit ihrer Tochter zu fühlen schien, hatte sie vor Kurzem gemeint, dass Julia vielleicht nie die Gelegenheit gehabt habe, selber Kind zu sein, und deshalb keine Beziehung zu ihnen aufbauen könne. Julia hatte daraufhin gebrummt: „Vielen Dank auch, Dr. Freud!“, aber gleichzeitig hatte sie gedacht: Oha! Glaubst du wirklich?
    Julia war zehn gewesen, genauso alt wie Cari Anne heute, als ihre Mutter starb. Ihr Vater versuchte, ihr das Leben so normal wie möglich zu gestalten, und sie bewunderte Luc Racine sehr für seine Bemühungen, aber an dem Tag, als ihre Mutter gestorben war, war etwas in ihr zerbrochen. Sie wusste das damals schon, auch wenn sie es nicht verstanden hatte. Aber sie hatte es gespürt, als wäre an etwas gezerrt und gezogen worden und es schließlich an den Nahtstellen eingerissen. Es hatte wehgetan, und der Schmerz war so real und deutlich spürbar gewesen,dass sie als kleines Mädchen wirklich geglaubt hatte, etwas – ihr Bauch, ihre Gedärme, ihr Herz – habe ein Loch bekommen.
    Ihr Vater behauptete, dass sie an einem Tag noch auf Bäume geklettert sei und am nächsten habe sie einen Stuhl an die Spüle geschoben, um den Abwasch zu machen und die Aufgaben ihrer Mutter zu übernehmen.
    „Das war einfach nicht normal“, beendete Luc Racine dann seine Erzählung. Jetzt verhinderte allerdings der Alzheimer manchmal, dass er seine Tochter erkannte, geschweige denn, dass er sich an diese Geschichte oder seine seit Langem verstorbene Frau erinnerte.
    Vielleicht kam Julias mangelhafte Mütterlichkeit wirklich von ihrem Mangel an einer echten Kindheit. Jahrelang hatte sie es für den Grund gehalten, keine normale Beziehung aufrechterhalten zu können. Erst jüngst war ihr aufgegangen – es war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen –, dass diese Unfähigkeit etwas damit zu tun haben könnte, in der falschen Mannschaft zu spielen. Also versuchte sie es nun von Neuem. Und dieses Mal gab sie sich wirklich Mühe. Wenn jemand Buch führte, müsste sie hierfür ein dickes Plus bekommen: Sie holte Fräulein Klebfinger von der Schule ab und musste auch noch vor dem Büro der Rektorin warten, um sich die Genehmigung dafür erteilen zu lassen.
    Es machte ihr nichts aus, dass sie sich die Genehmigung holen musste, obwohl ihre Freundin all die nötigen Formulare ausgefüllt hatte. Als Polizistin wusste Julia die Vorschriften zu schätzen, die die Kinder vor Perversen schützten. Sie erleichterten ihr mit Sicherheit die Arbeit. Aber auf die Rektorin zu warten hatte etwas Verunsicherndes an sich, egal wie alt man war.
    Sie blickte auf die große Uhr an der Wand. Diese Art von Uhr gab es in allen Behörden, wahrscheinlich gehörte sie zur Standardausstattung. In ihrer Grundschule hat es eine ähnliche gegeben. Und damals hatte sie viel Zeit vor dem Rektoratsbüro verbracht. Sie war schon als Kind nicht besonders geduldig gewesen. Nichts schien sie davon abzuhalten, Gleichaltrigen zusagen, wie doof sie waren – egal ob sie zehn Jahre alt war oder einunddreißig. Nur dass sie jetzt, da sie eine Waffe trug, für gewöhnlich nicht mehr so oft mit ihr stritten.
    Eine Frau eilte ins Vorzimmer. Sie klopfte an die Tür der Rektorin, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern öffnete gleich die Tür.
    „Ich habe dreiundsechzig gezählt, die am Krankenzimmer Schlange stehen“, sagte sie vom Türrahmen aus. „Die nicht mitgerechnet, die in den Toiletten sind.“
    Eine Stimme antwortete, aber Julia konnte nicht verstehen, was sie sagte. Der Kopf der Frau fuhr herum, und erst jetzt bemerkte sie Julia und Cari Anne. Sie trat ins Büro, und die Tür fiel ins Schloss.
    Julia zog ihre Hand aus der des Mädchens und stand ruhig auf, um einen Blick nach draußen zu werfen. Eine Schlange von Kindern stand um die Ecke. Einige hielten ihre Bäuche. Andere lehnten an der Wand,

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