Fleischeslust - Erzaehlungen
verglühen. Ich starrte ehrfürchtig durchs Fenster auf das Ding hinaus, auf die große Kuppel, unter der sich die brodelnde Komplexität verbarg, und ich war beeindruckt, aber dabei dachte ich an die frühere Verwendung des Areals als Jahrmarktgelände, an Lichtergirlanden, Zuckerwatte und Karussells. Jetzt stand hier diese graue Kuppel.
Sie führten uns in ein hellerleuchtetes Gebäude voller bunter Ausstellungsstücke, wo wir Sachen in die Hand nahmen, die dafür gedacht waren, über das schimmernde Linoleum schlitterten und einen kurzen Trickfilm sahen, in dem sich ein gewisser Johnny Atom in zwei Hälften spaltete und die Welt rettete, indem er Strom erzeugte. Das Ganze war ziemlich langweilig, abgesehen von der Kuppel selbst und dem, was Casper erzählt hatte, und nach einer Stunde veranstalteten meine Mitschüler im Saal ein wildes Getobe, brachen Handgriffe ab, kreischten, rannten herum, spielten Fangen und stellten sehr konkrete Überlegungen zum Mittagessen an – das wir, wie sich herausstellte, erst in der Schule bekommen würden, in der Cafeteria, und danach sollten wir in unsere Klassenzimmer zurück, um zu diskutieren, was wir auf dem Ausflug gelernt hatten.
An diesen Tag erinnere ich mich wegen der eindrucksvollen grauen Kuppel, aber auch weil ich damals zum erstenmal Maki Duryea näher in Augenschein nehmen konnte, das neue Mädchen, das seit kurzem in die andere sechste Klasse ging. Maki war schwarz – nein, nicht nur einfach schwarz: schwarz und zudem orientalisch. Ihr Vater war während der Besatzung in Osaka stationiert gewesen, ihre Mutter war Japanerin. Ich beobachtete sie an diesem Vormittag heimlich von ganz hinten im Bus, wo ich neben Casper saß. Sie saß irgendwo in der Mitte, neben Donna Siprelle, einem Mädchen, das ich seit Ewigkeiten kannte. Sehen konnte ich nur ihren Hinterkopf, aber das genügte: der Kopf war eine Offenbarung. Ihr Haar, von absoluter, unvermischter, interstellarer Schwärze, verschwand hinter der Rückenlehne, als wäre es unendlich lang. Es hatte glatt heruntergehangen, als wir am Morgen in den Bus eingestiegen waren, doch auf der Rückfahrt war es verwandelt, ein wüster elektrisierter Filz, der den ganzen Sitz verhüllte und den kleinen, adretten Knäuel aus blonden Löckchen auf Donna Siprelles Hinterkopf völlig verdeckte. »Maki Duryea, Maki Duryea«, skandierte Casper, obwohl ihn im Pandämonium des Schulbusses auf dem Weg zum Essen außer mir niemand hören konnte. Wütend rammte ich ihm den Ellenbogen in die Seite, aber er machte weiter, sogar noch lauter, um mich zu ärgern.
Es gab keine Schwarzen an unserer Schule und Asiaten oder Latinos auch nicht. Italiener, Polen, Juden, Iren, die Abkömmlinge der ersten holländischen und englischen Siedler im Hudson Valley, die gab es, die waren wir, aber Maki Duryea war die erste Schwarze – und die erste Asiatin. Caspers Vater war Jude, seine Mutter eine katholische Polin. Casper besaß den Spitzen-IQ eines Genies, aber er war komisch, zuinnerst irgendwie total schräg, was ihn von uns anderen unterschied. Bei allem war er der erste von uns – beim Onanieren, beim Rauchen und beim Trinken –, obwohl er sich nichts daraus machte. Einmal verursachte er in der ganzen Schule eine Panik, als er nach dem Mittagessen nicht mehr auftauchte und erst nach langer Suche, Zimmer für Zimmer und Spind für Spind, gefunden wurde: auf der Feuertreppe, in aller Ruhe ein Buch lesend; ein andermal stürzte er von seinem Platz hinten im Klassenzimmer nach vorn und machte vor dem bedauernswerten Lehrer hastig fünfzig Kniebeugen, dann steckte er den Daumen in den Mund und blies prustend die Luft aus, bis er ohnmächtig wurde. Er war mein bester Freund.
Im Bus sah er mich plötzlich an und verstummte. Seine Augen hatten die Farbe der riesigen Betonkuppel, das Haar war bis auf eine durchscheinende Bürstenfrisur geschoren. »Sie stinkt«, sagte er grinsend, und sein Blick durchbohrte mich. »Maki Duryea, Maki Duryea, Maki Duryea«, brüllte er wieder los, ehe er in Gekicher ausbrach. »Die riechen nicht so wie wir.«
Meine Familie war aus Irland. Aus Irland, mehr wußte ich nicht. Ein Hemd war aus Baumwolle oder aus Wolle. Wir waren aus Irland. Keiner redete darüber, es wurde keine exotische Sprache im Haus gesprochen, wir trugen weder Trachten noch aßen wir besondere Speisen, und zur Kirche gingen wir auch nicht. Wenn da nicht mein Großvater gewesen wäre...
In jenem Jahr besuchte er uns an Thanksgiving, ein kleiner, dicker
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