Fleischeslust - Erzaehlungen
exotisch, noch immer »die Neue« – und schlimmer, viel schlimmer: die ganze Sache komplizierte sich durch ihre Hautfarbe und ihr Haar und die schwarze, unverwandte Tiefe ihrer Augen, aber sie war einfach ebenso da wie wir alle, und nach einer Weile schien es uns, als wäre sie immer schon dagewesen. Sie war in der Parallelklasse, aber ich sah sie auf dem Spielplatz, im Gang, sah sie in der Cafeteria mit einem Tablett in der Hand Schlange stehen oder die Stufen des Schulbusses erklimmen, mit einer Strickmütze und Fäustlingen, wie sie auch die anderen Mädchen trugen. Ich hatte mit keinem der Mädchen allzuviel zu reden, aber wahrscheinlich habe ich doch hie und da im Vorbeigehen auch mit ihr gesprochen, und einmal, als ich sehr spät vom Spielplatz zu dem vollen Bus lief, kam ich neben ihr zu sitzen. Und einmal bestimmte mich die Sportlehrerin, mit einem gleichgültigen Wink ihres Handgelenks, zu ihrem Tanzpartner.
Alles am Tanzen war nervig. Es war ganz anders als Basketball, Schlagball und Volleyball. Die potentiellen Peinlichkeiten waren unwägbar. Wir waren unruhig und gelangweilt, die Turnhalle war überheizt wegen des kalten Eisregens, der gegen die Fenster prasselte, und die Mädchen wirkten verzückt und lächelten sonderbar, als Mrs. Feldman uns die Tanzschritte demonstrierte. Wir Jungen lümmelten uns gegen die harte Wand, knufften einander, scharrten mit den Füßen und führten ein ausgefeiltes Ritual auf, um zu beweisen, daß uns nichts von alledem auch nur minimal interessierte, obwohl das nicht stimmte und wir ungewollt nervös waren. Aus beiden Klassen lehnte nur Casper es ab, mitzumachen. Mrs. Feldman schickte ihn ohne viel Palaver ins Büro des Direktors, stellte willkürlich Paare zusammen, schaltete dann den antiken Plattenspieler an, mit den seltsamen kratzenden Liedern, die keiner kannte, mit Rhythmen, denen keiner folgen konnte, und ehe ich so recht begriffen hatte, was eigentlich vorging, nahm ich Maki Duryeas feuchte Hand in meine, und mein anderer Arm schlang sich um ihren Rücken wie eine tote Ranke. Sie trug einen Pullover, der für eine Expedition in die Arktis gereicht hätte, und schwitzte in der drückenden, feuchten Dschungelatmosphäre der Turnhalle. Ich konnte sie riechen, doch trotz Caspers Bemerkung verströmte ihre Körperwärme einen angenehmen einschläfernden Duft, der mich die ganze quäkende Ewigkeit der Schallplatte hindurch verzauberte und auf den Beinen hielt.
Der Ball, der große Schulabschlußball, auf den all diese tanztechnischen Übungen hinausliefen, fand am 29. Februar statt, und auf einen bösen Wink des Schicksals hin entschied Mrs. Feldman, den Brauch zu wahren und den Mädchen die Wahl ihrer Tanzpartner zu überlassen. Während wir Jungen in Kunst perspektivisches Zeichnen übten – gewaltige, schiefe Ansichten von Gebäuden und Alleen, die einem fernen Fluchtpunkt zustrebten –, bastelten die Mädchen ihre Einladungen aus Buntpapier, Stoffschleifen und Klebstoff. Ich hatte nichts anderes im Kopf als Basketball, Eisfischen, die ferne zitternde Vision von Frühling und Sommer, die mir Befreiung von Mrs. Feldman, der Turnhalle, der Cafeteria und allem anderen verhieß, und obwohl ich es hätte voraussehen können, war ich überrascht, als Makis Einladung eintraf. Ich wollte nicht hingehen. Meine Mutter fand, ich müsse. Mein Vater sagte gar nichts.
Von da an klingelte das Telefon andauernd. Meine Mutter nahm jeden Anruf mit stiller Entschlossenheit entgegen, ungerührt, unerschüttert raunte sie ins Telefon, kritzelte auf einem Block herum, hob ihren Drink oder ihre Zigarette an die Lippen. Ich weiß nicht, was genau sie sagte, aber sie sprach mit den anderen Müttern, den Müttern der Söhne, die nicht von Maki Duryea zum Ball eingeladen worden waren, und sie erklärte ihnen haarklein, weshalb sie ihrem Sohn erlaubte, ja ihn dazu ermutigte, mit einer Negerin auf den Ball zu gehen. In späteren Jahren, als die Bürgerrechtsbewegung aufkam und Malcolm X und Martin Luther King ermordet wurden und die Ghettos brannten, hatte sie nie viel darüber zu sagen, aber damals, am Telefon, spürte ich ihre Leidenschaft, den kalten, beharrlichen Ton ihrer Stimme.
Ich ging mit Maki Duryea auf den Ball. Sie trug ein gestärktes Baumwollkleid mit kurzen Ärmeln, in dem sie komisch und irgendwie zu schlicht aussah, ich kam mit Schlips und Jackett und war extra zum Friseur gegangen. Ich nahm sie in den Arm und tanzte mit ihr, obwohl ich nicht wirklich wollte und sie
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