Fleischeslust - Erzaehlungen
Mann mit kurzem weißem Stoppelhaar, schlohweißen Augenbrauen und einer Melodie in der Sprache, die ich noch nie gehört hatte – höchstens in irgendeinem uralten Film, einer Fernsehwiederholung mit mieser Bildqualität – nichts, an das ich mich bewußt erinnert hätte. Meine Großmutter kam mit. Sie war dünn und ausgemergelt, am ganzen Körper mit Ekzemen überzogen, und sie war Diabetikerin; sie wog kaum mehr als vierzig Kilo, aber sie strahlte eine Fröhlichkeit aus, die ansteckend war. Mein Vater, ihr Sohn, wachte davon auf. Eine festliche Stimmung erfüllte unser Haus.
Mein Großvater, der sich Jahre später zur Beerdigung meines Vaters in einen Anzug warf und prompt für einen Bankier gehalten wurde, hatte einen Herzinfarkt hinter sich und trank keinen Alkohol. Oder vielmehr war ihm das Trinken strikt untersagt worden, und meine Eltern, die selber tranken, eine Menge tranken, zuviel tranken, gaben sich große Mühe, ihre Alkoholvorräte vor ihm zu verstecken. Alle Flaschen wurden aus der Hausbar verbannt, sogar die absonderlichen Liköre, die seit Jahren niemand angerührt hatte – außer mir, wenn ich heimlich bei dieser oder jener Flasche den Verschluß aufschraubte und daran roch oder mit der Zunge probeweise über den kalten harten Ring aus Glas strich –, und das Bier verschwand aus dem Kühlschrank. Ich wußte nicht recht, was das sollte. Alkohol war eine Tatsache des Lebens, er schmeckte komisch, und Erwachsene frönten ihm, so wie sie einer ganzen Reihe von bizarren, schlechten Angewohnheiten frönten. Ich kickte einen Football auf dem steinhart gefrorenen Rasen herum.
Und dann eines Nachmittags – ein oder zwei Tage vor Thanksgiving, die Großeltern waren schon seit einer Woche bei uns – kam ich von draußen herein, mit tauben Fingern und laufender Nase, und im Haus herrschte ein Tohuwabohu. Ein Stuhl lag umgekippt in der Ecke, der Beistelltisch stand schräg, weil ein Bein abgebrochen war, und meine Großmutter krümmte sich auf dem Fußboden, wie ein zartes, dünnes Bündel, das der Wind beutelte. Großvater stand über ihr, wütend und puterrot im Gesicht, während meine Mutter nach seinem Ellenbogen griff, als versuchte sie sich verzweifelt vor dem Sturz in einen Abgrund zu bewahren. Mein Vater war noch nicht von der Arbeit zurück. Ich stand in der Tür, noch betäubt von der Umarmung des Windes, und hörte die beiden Frauen unartikuliert gegen das seltsam modulierte Gebrüll des Mannes anschreien. Ich wich zurück und zog die Tür hinter mir zu.
Am nächsten Tag ging mein Großvater, mit seinen achtundsechzig Jahren und den steifen Knien, bei minus fünf Grad die drei Kilometer nach Peterskill zum nächsten Schnapsgeschäft. Es war bereits dunkel, Abendessenszeit, und wir wußten einfach nicht, wo er war. »Er ist nur spazierengegangen«, sagte meine Mutter. Dann klingelte das Telefon. Es war die Nachbarin von zwei Häuser weiter. Da liege ein bewußtloser Mann in ihrem Vorgarten – und jemand habe gesagt, wir würden ihn kennen. Ob das stimmte?
Die nächsten beiden Tage – Thanksgiving und den darauffolgenden Tag – campte ich in dem kümmerlichen Wäldchen am Ende unserer Siedlung. Ich lief nicht von zu Hause weg, etwas so Extremes oder Entscheidendes tat ich nicht – ich ging nur zelten, sonst nichts. Ich kaute draußen im Wald auf kaltem Truthahn herum, stopfte mir mit klammen Fingern pappige Füllung in den Mund. Nachts lag ich bibbernd unter den Decken, nie zuvor und nie danach habe ich je so gefroren.
Wir waren Iren. Ich war Ire.
Wie alle Winter in jenen Tagen dauerte dieser Winter ewig, gefangen im festen Griff von gefrorenem Matsch und auspuffgeschwärztem Schnee. Die toten dunklen Stunden in der Schule waren Sühne für ein Verbrechen, das wir noch gar nicht begangen hatten. Der Fernseher wurde um halb vier, wenn wir heimkamen, angeschaltet, und lief immer noch, wenn wir um neun Uhr ins Bett gingen. Ich spielte in diesem Winter Basketball, in einer Liga, die ein paar Väter aus der Siedlung organisiert hatten, und dreimal die Woche ging ich mit einer Kruste aus gefrorenem Schweiß im Haar aus der fußpilzverseuchten Turnhalle nach Hause. Ich wurde vier Zentimeter größer, ließ meine Bürstenfrisur auswachsen und fing an, den Kragen meines Skianoraks hochzuklappen. Am meisten war ich mit Casper zusammen, aber während die bleichen, verkürzten Tage sich dahinzogen, freundete ich mich mehr und mehr mit dem Gedanken an Maki Duryea an.
Sie war noch immer fremd und
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