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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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auf.
    Die Luft war schwanger, üppig, gesättigt vom Duft der Erneuerung und dem durchdringenden Summen der Bienen. Das Trübsalblasen, die Ängste, der benennbare Schrecken und die namenlose Leere: alles verflüchtigte sich im Angesicht dieses Hosiannas von einem Morgen. Ich fühlte mich wie der mufflige Geizhals, dem an Weihnachten das Herz aufgeht, wie der wiederbelebte Lazarus, wie Alexander beim Marsch durch Thrakien. Ich riß alle Fenster im Haus auf, aß ein Brötchen, las die Zeitung, legte mir zu diesem triumphalen Tagesanbruch den grandiosen Johann Sebastian Bach auf. Es war schwindelerregend, aber es hielt nicht an. Irgendwann, unausweichlich, wie eine Krankheit, schlichen sich die Frösche und Kröten erneut in meine Gedanken, und gegen zehn Uhr war ich wieder ein ganz normaler Sterblicher mit Rückenschmerzen, der allmählich in seinen Alltag sank.
    In diesem Moment, auf der Sohle dieses Tals, hatte ich eine Eingebung. Der Kaffee in der Tasse war kalt, die Zeitung zerknittert, Bach von der Tyrannei des Tonarms zum Schweigen gebracht, da durchzuckte mich plötzlich eine Idee, und ich schoß aus dem Küchenstuhl hoch wie eine Rakete. Der Impuls trug mich bis zum Schlafzimmerschrank, wo ich meine Wanderschuhe, ein Sweatshirt, meine Baseballmütze und die Jeansjacke hervorkramte, dann weiter zum Medikamentenschrank, in dem ich nach der Zeckenabwehrsalbe und einer alten Dose mit Insektenspray stöberte. Dann wählte ich Adrianas Nummer.
    »Adriana«, keuchte ich in den Hörer, »Liebling, mein Schatz...«
    Sie nuschelte undeutlich und verschlafen: »Soll das ein obszöner Anruf sein?«
    »Ich weiß, ich bin in letzter Zeit ziemlich trübsinnig gewesen...«
    »Ganz zu schweigen davon, daß du nicht ans Telefon gehst.«
    »Ich geb’s ja zu, ich geb’s ja zu. Aber hast du heute schon mal aus dem Fenster gesehen?«
    Hatte sie nicht. Sie lag noch im Bett.
    »Also, ich denke mir folgendes: Wiese sollten wir B. Reid einfach glauben? Wieso sollten wir irgendwem blind glauben?«
    Ich wußte nicht, wo ich mit der Suche nach der scheuen Kröte Bufo americanus anfangen sollte, ganz zu schweigen von Laub- und Leopardenfrosch, aber ich war gepackt von dem Wunsch, sie alle kennenzulernen, ihre feisten Glieder anzufassen und ihre unbeholfenen Rituale zu beobachten, am Brodeln des Lebens in Tümpel, Teich und Pfütze wieder teilzuhaben und wenigstens vorübergehend die quälende Erinnerung an B. Reid und seine winzigen Krötenleichen beiseite zu schieben. Es war irrational, das wußte ich, aber ich dachte, wenn ich sie nur ein einziges Mal sehen und mich so vergewissern könnte, daß sie ihre bescheidene Nische in der Hierarchie des Daseins besetzten, würde alles wieder gut.
    Wir parkten an der Autobahn und stapften planlos durch den Straßengraben daneben, ohne auf ein Zeichen von Leben zu stoßen. Das alte Schilfrohr war spitz und brüchig, und überall lag Styropor, Glas und Aluminium herum. LKWs saugten uns die Luft aus den Lungen, Teenager grölten. Adriana hielt auf einen vielversprechend aussehenden Tümpel am anderen Ende des zerfurchten Parkplatzes am Bahnhof von Garrison zu, doch dort fanden wir nichts als aufgeweichte Kaugummifolien und Kartoffelchipstüten, die von Stahlgürtelreifen fest in den Dreck gepreßt waren. »Wir dürfen nicht aufgeben«, sagte sie mit einem kaum merklichen Anflug von Verzweiflung. »Was ist mit dem Wald beim Appalachian Trail? Du weißt doch, drüben beim Supermarkt, wo der Wanderweg die Straße überquert?«
    »Na gut«, sagte ich, und das Fieber hatte mich erfaßt, »versuchen wir’s.«
    Zwanzig Minuten später waren wir im Wald, die Sonne schien auf Stamm und Stumpf, zarte frische gelbgrüne Blättchen entfalteten sich über uns, Vögel flatterten auf, als hingen sie an Schnüren. Es lag ein Duft in der Luft, den ich vergessen hatte, der schwere, feuchte Geruch nach Zerfall und neuem Leben, nach Sporen und Pollen und Saat und Mulch. Insekten umschwirrten mein Gesicht. Ich schwitzte. Doch dabei fühlte ich mich gut, kräftig in den Beinen und im Rücken, befreit von der dunklen Wolke, die die ganze Woche auf mir gelastet hatte, und während ich Adriana auf der langen, langsamen Steigung des Weges folgte, schien es mir, als hätte ich noch nie ein größeres Wunder gesehen als die Muskulatur ihrer Oberschenkel und ihres Hinterns, die sich im festen Griff ihrer Jeans straffte und entspannte. Das war Natur.
    Wir waren gut einen Kilometer weit gegangen, als sie abrupt mitten auf dem

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