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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Kommode, das aus der Verandatür ragt wie ein greifbarer Ausdruck seiner schlimmsten Ängste. Als er es jetzt sieht, das grelle Licht, das von den polierten Flanken reflektiert wird, die Klauenfüße, die halb in der Luft schweben, will er am liebsten seine Wut herausschreien über die ganze Ungerechtigkeit, über sein elendes Schicksal, und er möchte sein Fernglas und die dünne, löchrige Regenplane einpacken, die er seit seiner Jugend in Iowa hat, um damit in die Berge zu ziehen und sich dort von Meteoritenschauern reinwaschen zu lassen, aber er kann es nicht. Die alte, handgedrechselte Kommode steht für seine Schuldgefühle und für Marshas Groll – ein gutes und wertvolles Stück, das dem Verfaulen preisgegeben ist. Er schlurft jetzt halbherzig darauf zu, denn aus Erfahrung weiß er, daß sich alles irgendwie doch hineinstopfen läßt, da ertönt neben ihm hektisches Hupen. Er dreht sich um, verdammt wie seinerzeit Sisyphos, und sieht Marsha mit dem Range Rover in die Einfahrt biegen – der Innenraum ist bis zu den Fenstern vollgestopft, und auf dem Dach hat sie ein gigantisches Möbelstück festgezurrt, das an ein primitives Raumfahrzeug erinnert. »Julian!« ruft sie. »Julian! Was glaubst du wohl, was ich alles gefunden habe?«
    »Hab schon Schlimmeres gesehen«, sagt die Frau, und Julian fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufstellen – sie hat Schlimmeres gesehen, aber weniger Schlimmes offenbar auch. Sie stehen beide im Wohnzimmer – oder vielmehr auf dem schmalen Saumpfad durch die Möbelcañons, hinter denen die Wände, der Kamin, sogar die Decke des ehemaligen Wohnzimmers verborgen sind. Ohne sie direkt anzublicken, lehnt sich Julian gegen eine Vitrine, die bis obenhin mit buntbemalten Porzellanpuppen in Folklorekostümen gefüllt ist, und dreht nervös ihre Visitenkarte hin und her. Das Design der Karte ist eindeutig minimalistisch – in dünnen schwarzen Reliefbuchstaben steht darauf: Susan Certaine: Professionelle Organisation , darunter eine Telefonnummer, sonst nichts –, die Frau selbst eindrucksvoll, forsch, geradezu imposant. Er ist sich einfach nicht sicher. Es muß etwas getan werden, etwas Radikales – und Marsha, die vor einer Stunde losgefahren ist, um die Flohmärkte abzuklappern, wird der Sache natürlich noch zustimmen müssen, wenigstens prinzipiell –, aber obwohl die Situation Julian schrecklich bedrückt, obwohl er schon oft gewitzelt hat, irgendwann werde er das ganze Haus niederbrennen oder den größten Secondhandladen der Welt eröffnen, möchte er jetzt doch unterstützt und überzeugt werden.
    »Sie haben schon Schlimmeres gesehen?« wiederholt er.
    »Sicher. Natürlich hab ich das. Wofür halten Sie mich – für eine Amateurin?«
    Julian hebt achselzuckend die Handflächen, ist bereits in der Defensive.
    »Wissen Sie, Mr. Laxner, in meinem Geschäft bekomme ich es meist mit den schwierigsten Fällen zu tun, mit Fällen, die alle anderen längst aufgegeben haben – mit Leuten wie Liberace, Warhol, Nancy Reagan. Erinnern Sie sich noch an Imelda Marcos? Das war ich. Irgendwann rufen sie immer mich an, um das Chaos zu bereinigen. Die hatte allein zweitausendsiebenhundert Paar Schuhe, Mr. Laxner. Denken Sie darüber mal nach.«
    Sie läßt den Blick kurz durch das Zimmer schweifen, wobei hinter den Zwillingsscheiben ihrer Kontaktlinsen eine winzige eiskalte Flamme brennt. Sie ist eine große, blasse, ätherische Erscheinung – eine aufs Wesentliche reduzierte Frau, das Haar straff nach hinten gekämmt und in einen Knoten gezwängt, keine Wangen, keine Lippen, weder Make-up noch Schmuck, schwarzes Kleid, schwarze Schuhe, die Aktentasche schwarz wie ein totes Brikett aus der tiefsten Tiefe des Kohlensacks. »Sie haben hier ein Problem«, sagt sie schließlich und fixiert ihn dabei. »Sie sind ein Sammelschwein, Mr. Laxner, Sie stecken bis zu den Ohren im Dreck.«
    Zugegeben, so ist es, und dennoch zuckt er zusammen ob der Härte dieser Anschuldigung.
    Sie beugt sich ganz nahe an ihn heran, die Aktentasche wie einen Harnisch vor die Brust gepreßt, und er spürt ihren Atem heiß auf seinem Gesicht: Seife, Pfefferminz-Mundwasser, Lysoform. »Und wissen Sie, wer ich bin, Mr. Laxner?« fragt sie mit heiserem, kämpferischem Rasseln in der Kehle, einem schabenden, knurrenden Ton.
    Julian bemüht sich um Lässigkeit, er versucht, die Andeutung eines Lächelns in seine Mundwinkel einzuarbeiten und darüber hinwegzusehen, daß sein persönlicher Bewegungsspielraum

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