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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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hergekommen.
    »Kamerun«, sagte B. Reid, und seine Stimme raschelte wie totes Laub, »Ecuador, Borneo, die Anden und die Alpen: wohin man sieht, überall verschwinden die Frösche und Kröten, ausgerottet wie durch eine Pest, und unser Planet wird dadurch ärmer und ärmlicher. Und woran liegt das? Was haben wir getan? Der saure Regen? Die Ozonschicht? Irgendein Gift, das wir noch gar nicht benannt haben? Meine Damen und Herren«, schnarrte er, »heute die Froschlurche und morgen die Biologen... ehe wir’s uns versehen, sind die Kaufhäuser leer, die Schnellstraßen verlassen, die Bäche und Teiche und Sümpfe für immer stumm. Wir alle begehen Selbstmord!« schrie er und ließ seine Dreadlocks medusisch herumwirbeln, daß sie ihm wie Schlangen um den Kopf flogen. »Wir sind verdammt, verstehen Sie?«
    Die Zuhörer waren wie gebannt. Keiner brachte ein Wort hervor. Ich wagte nicht, Adriana anzusehen.
    Dann wurde er wieder leiser. » Bufo canorus «, sagte er, und der Name klang wie ein Gebet, ein Abschiedsgruß, ein Nachruf. »Sie alle kennen meine Studie aus dem Yosemite Valley. Sechs Jahre habe ich investiert, sechs Jahre lang habe ich im Schlamm gehockt, Sumpfgas eingeatmet und gegen Blutegel, Zecken und all das andere Viehzeug gekämpft, und was hatte ich davon? Was hatte die Yosemite-Kröte davon? Ganz einfach ausgestorben ist sie. Sie ist weg. Ausgelöscht, weggewischt vom Antlitz der Erde.« Er hielt inne, wie um seine Kräfte zu sammeln. »Und was ist mit Richard Wassersugs Albino-Leopardenfröschen in Nova Scotia? Weiße Kaulquappen. Etwas Einmaliges. Was für eine enorme Mutation war das?« Seine Stimme bohrte sich durch die Lautsprecher, rauh vor Leidenschaft und weithin schallend wie Totenglocken. »Ich sage es Ihnen: eine tödliche. Ein Jahr später waren sie ausgestorben.«
    Mein Gesicht brannte. Plötzlich fühlte sich mein Rücken an, als würden Feuerameisen darüberkrabbeln, wie versengt von siedendem Regen, festgezurrt zu einem brennenden Lasso. Ich sah zu Adriana, und ihre Augen blickten wild, wie in Panik, ein dünnes Netz von Venen auf einer weißen Fläche. Wir waren nur so aus Spaß hergekommen, und jetzt glotzte uns auf einmal die nackte Wahrheit unserer eigenen Sterblichkeit ins Gesicht. Ich wollte aufschreien im Namen der Frösche, Kröten und Salamander, meines eigenen bindungslosen und entwurzelten Ichs.
    Aber es war noch nicht vorbei. B. Reid verzerrte das Gesicht, warf den Kopf zurück und stieß die Hand tief in eine Manteltasche; im nächsten Moment reckte er die geballte Faust in die Luft. Ich erhaschte einen Blick auf etwas Dunkles, Lederartiges in seiner Hand, ein Stück Pökelfleisch, totes Gewebe, aus dem alle Vitalität gewichen war. »Das costaricanische Goldfröschchen«, schrie er laut und anklagend, »es ruhe in Frieden!«
    Die Frau neben mir stöhnte. Weiter hinten im Saal erklang ein Schrei. Stuhlbeine kratzten über den Boden, während die Leute aufsprangen.
    B. Reid griff in seine Brusttasche und schwenkte einen weiteren Kadaver. » Atelopus zeteki , die peruanische Stummelfußkröte, sie ruhe in Frieden!«
    Wehklagen und Gewimmer.
    » Rana marinus , er ruhe in Frieden! Der Gambia-Riedfrosch, er ruhe in Frieden!«
    B. Reid hielt die leblosen Leiber hoch, als wollte er Dämonen austreiben. Seine Stimme verklang zur Lautlosigkeit. Langsam, schmerzverzerrt schüttelte er den Kopf, so daß seine verdrillten Locken wie ein Bahrtuch in sein Gesicht hingen. »Ihre Reisen nach Costa Rica, nach Peru oder Gambia können Sie stornieren, es lohnt sich nicht«, sagte er schließlich, während die Klagelaute im Saal allmählich abebbten. »Dies« – hier überschlug sich seine Stimme – »sind die letzten Exemplare.«
    Der folgende Tag war der Geburtstag meiner Schwester, und ich hatte sie, Jerry und die Kinder bei mir zum Abendessen eingeladen, auch wenn ich nach B. Reids Referat keine rechte Lust zum Kochen verspürte. Seine ersterbende Raspelstimme, die durch den Vortragssaal gehallt hatte wie durch eine Todeszelle, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Stumm und benommen – immerhin hatten sich in diesen scheußlichen Froschfleischklumpen unsere schlimmsten Ängste konkretisiert – war ich mit Adriana gleich nach seiner Rede gegangen; wir hatten uns einen Weg durch das Gedränge der gerührten Wissenschaftler und betrübten Krötenfreunde hinaus in den Regen gebahnt. Die Welt roch nach Petroleum, Säure und Schwefel, die Bäume waren krumm und verkrüppelt, in den Straßen

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