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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Weg stehenblieb. »Was ist los?« fragte ich, aber sie bedeutete mir, ich solle still sein. Ich schob mich vor, bis ich neben ihr stand. Mein Puls raste, mein Atem stockte. »Was?« flüsterte ich. »Was ist denn?«
    »Horch!«
    Anfangs hörte ich es nicht, weil meine Ohren auf die Zivilisation eingestimmt waren – das Gekrächze von Fernseher und Hi-Fi-Anlage, das Heulen von Verbrennungsmotoren –, dann aber begann der Wald zu mir zu sprechen. Zunächst waren die Geräusche verworren, doch nach einer Weile zerfielen sie in lauter Einzelstimmen: hauchzartes Geraschel und Geknister, die schrillen Dispute der Vögel, das Plätschern von fließendem Wasser – und noch etwas anderes, etwas zugleich Seltsames und Vertrautes, ein zirpendes, gurgelndes Glucksen, das sich, kräftig und vielstimmig, nicht weit von uns erhob. Adriana wandte sich mir zu und grinste.
    Auf einmal hatten wir es schrecklich eilig, stürmten atemlos durch frostgeschwärztes Unterholz und spitze, dornige Sträucher, vom Wege ab und hinein in den Schlund einer dunklen, glitschigen Schlucht. Ich dachte an gar nichts. B. Reid, Jerry, Bandscheibenvorfälle, multiple Brüche, das schwachgrüne Glühen des Computermonitors: nichts. Wir bewegten uns mit der fließenden Eleganz von Ballett-Tänzern, die natürlichste Sache der Welt, duckten uns und huschten mal nach rechts, mal nach links, tauchten unter diesem Hindernis weg, flankten über jenes, durchquerten das Gestrüpp ebenso mühelos, wie wir den Perlenvorhang eines Chinarestaurants geteilt hätten. Und als wir näher kamen, schwoll dieser Ton, dieses Trillern, dieser wüste und heitere Lobgesang auf das Leben rings um uns an, bis alle unsere Zellen und Fasern zu vibrieren schienen. »Da!« rief Adriana plötzlich. »Da drüben!«
    Ich sah es im selben Moment: die seichte kleine Fläche eines Tümpels, durch das Geflecht der Stämme schimmernd. Das Wasser reflektierte nichts, es war tintenschwarz unter der buttergelben Sonne und randvoll mit totem Astwerk. Ich nahm Bewegung wahr, und der glucksende Chor erhob sich bis zu den Wipfeln, jedes junge Blatt erbebte an seinem Zweig. Gleichzeitig erreichte mich der Geruch, ein organischer Duft, scharf und süß und reif. Ich nahm Adriana bei der Hand, und wir gingen wie in Trance auf das Wasser zu.
    Wir waren schon bis zu den Knöcheln drin, unsere Schuhe völlig vollgesogen, als der Tümpel plötzlich verstummte – alle Kröten im selben Atemzug, im selben Moment, als hätte ein Dirigent den Taktstock fallen gelassen. Und da sahen wir, daß das Wasser gar keine Oberfläche hatte, daß es eine Wiese aus Fleisch war, eine gewaltige, unendliche Krötenvereinigung. Vor unseren Augen nahmen sie Gestalt an, Stummelbeinchen und verkürzte Leiber, die übereinanderkrabbelten und herumpurzelten wie Äpfel in einem Korb. Da waren sie – Kröten, unzählige Kröten –, rammelten blind drauflos in einem Gewirr aus Schwimmhäuten und blubbernden Mäulern, rammelten in Stapeln von drei bis vier Tieren übereinander. Ihre Eier waren überall, perlenschnurartig und glitzernd vom Schleim des Lebens, und in ihren tausend Augen blitzte die Lust. Wir konnten förmlich hören, wie sie nacheinander grabschten und dabei knurrten, und wußten nicht, was wir tun sollten. Und dann hob eine einzelne Kröte am Rande des Tümpels mit ihrem dünnen gurgelnden Glucksen an, und im nächsten Moment waren wir vergessen, und die ganze wuselnde Masse nahm den Ruf auf; es war schaurig schön und durch und durch wild.
    Adriana sah mich an, und ich konnte mich nicht beherrschen: ich warf mich in ihre Arme. Über Vernunft oder Zweifel war ich längst hinweg, und was tat es schon? Sie wich vor mir zurück, nur ein kurzes Stück, watete durch das brodelnde Wasser und mitten zwischen die quakenden Kröten, dabei zog sie die Bluse und den schwarzen Spitzen-BH darunter aus. Sie sah mir unverwandt in die Augen, trat noch einen Schritt zurück und warf die Sachen einfach zu Boden, in den feuchten Dreck am Rande des Tümpels, und ließ sich dann nach unten sinken, wie in ein Nest. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich zog die Jeansjacke aus, riß mir das Hemd vom Leib und schleuderte die Baseballkappe ins Nichts. Und als ich mich auf sie stürzte, hüpften alle Kröten um ihr Leben.

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    Inmitten des Chaos träumt er von Kargheit, von Reinheit, von den wirbelnden Welten dunkler Sterne jenseits dieser beengten kleinen Welt, wo Entfernungen in Lichtjahren gemessen und Galaxien

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