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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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verschwinden und setzte dafür den Amputationsblick auf. »Peter, Adriana«, sagte er und zog dabei die Silben auf zutiefst pädagogische Art in die Länge, »der Kampf zwischen den Arten ist etwas völlig Normales, den hat es von Anfang an gegeben. Das Aussterben ist ganz natürlich: Keine Spezies kann erwarten, für immer zu leben. Nicht mal der Mensch. Die Lage ändert sich.« Er wedelte mit der Hand und lachte dann, machte einen Scherz daraus. »Wenn dieses Wetter nicht aufhört, dann steht uns bald eine neue Eiszeit ins Haus, und was werden eure Frösche dann anfangen?«
    »Darum geht’s doch nicht«, sagte ich.
    »Was ist mit den Dinosauriern, Peter?« fragte Charlene. »Oder mit den Mammuts?«
    »Ganz zu schweigen von Schlangensalben und Aderlaß.« Jerrys Lächeln war nun wieder da. Er beherrschte die Lage. Mit der Welt war es zum besten bestellt. »Alles bewegt sich voran, die Dinge entwickeln und verändern sich – wieso soll man über etwas Tränen vergießen, das man doch nicht ändern kann, über irgendein Märchenparadies, das die meisten dieser Umweltfanatiker gar nicht kennen? Was aber nicht heißen soll, daß ich nicht mit euch einer Meinung bin –«
    »Mein Gott!« rief Adriana und sprang vom Stuhl, als stünde sie unter Strom. »Die Ziege!«
    Spätabends, als alle nach Hause gegangen waren – sogar Adriana, obwohl sie sich an der Tür sehr sinnlich gegeben hatte und vermutlich über Nacht geblieben wäre, wenn ich mehr Enthusiasmus gezeigt hätte –, machte ich es mir mit der Zeitung im Sessel bequem und versuchte, den Kopf von allem zu leeren: totale Läuterung, Tabula rasa. Ich fühlte mich kraftlos, einsam, ein Klumpen aus Fleisch, Organen und Knochen, der unausweichlich auf das Grab zuglitt, zusammen mit meinen entfernten Verwandten, den Fröschen und Kröten. Es regnete immer noch. Kälte breitete sich im Zimmer aus, und ich sah, daß das Feuer niedergebrannt war. In meinem Rücken zog es, als ich mit dem Hintern herumrutschte, um das Heizkissen zurechtzurücken, dann fing ich an zu lesen. Für den Krieg im Nahen Osten, Aids unter Obdachlosen oder die Todesanzeigen fehlte mir der Nerv, deshalb blieb ich bei den Filmbesprechungen und den kuriosen Meldungen aus aller Welt.
    Es war schon spät, mein Geist war wohltuend betäubt, und ich wollte gerade das Licht ausschalten und mich ins Bett fallen lassen, als ich den Wissenschaftsteil aufschlug. Eine Schlagzeile stach mir ins Auge:
    KEIMENDE HOFFNUNG NACH ENTDECKUNG
NEUER ARTEN IM SCHLICK VOR DER KÜSTE
    Was sollte das? Ich las weiter und stellte fest, daß die keimende Hoffnung sich auf das unerwartete Auftauchen von Röhrenwürmern, Scheidenmuscheln und diversen Bakterien in einem bisher toten Abschnitt des Hudsonbeckens bezog, das schon seit Ewigkeiten als Müllkippe für New Yorks Klärschlamm und Abwässer diente. Dort unten, tief in den uralten Schichten des Schlicks, unter den plätschernden Wellen, in denen sich kein einziger Fisch tummelte, dort gab es Leben, das in einem neuen Medium sproß und gedieh. Was für eine Hoffnung. Was für eine prächtige, erhebende Neuigkeit.
    Röhrenwürmer. Die machten wohl Witze.
    Nach einer Weile faltete ich die Zeitung zusammen, suchte nach meinen Hausschuhen und nahm diese großartige keimende Hoffnung mit ins Bett.
    Die folgende Woche war ebenso schlimm und brutal wie die Woche davor. Die Arbeit war tödlich (zum Geldverdienen verschob ich Ziffern auf einem Bildschirm, und nie zuvor waren sie mir so sinnlos erschienen), mein Rücken durchlief täglich ein halbes dutzendmal den Zyklus aus stechendem Schmerz und völliger Taubheit, und das naßkalte Wetter ließ nicht nach, nicht eine einzige Stunde lang. Die Wolken hingen tief und blauschwarz am Himmel, es fiel eisiger Regen. Nach der Arbeit ging ich immer direkt nach Hause und nahm abends nie das Telefon ab, obwohl ich wußte, daß es Adriana war. Die ganze Woche dachte ich an Frösche und an den Tod.
    Und dann, am Samstag, weckten mich ins Zimmer strömendes Licht und eine unerwartete scharfe Wahrnehmung der Welt, klar und deutlich wie ein Duft. Ich setzte mich auf. Meine Füße fanden den Boden. Nackt und zitternd tappte ich durch das Schlafzimmer ans Fenster, wo ich, mit der Schnur der gleißenden Jalousien in der Hand, reglos verharrte, während der Wetterumschwung an den langen Rückenmuskeln in meiner Lendengegend zerrte. Dann zog ich an der Schnur, strahlendes Licht drang ins Zimmer, und im nächsten Augenblick stieß ich das Fenster

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