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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Wahrheit, dämmert ihm gerade, als er auf dem Absatz kehrtmacht und sich abrupt dem unverwandten Blick der schwarzen Augen von Susan Certaine gegenübersieht.
    »Sie, Sie haben die Schlösser ausgewechselt«, beschuldigt er sie, und dabei zittern seine Hände.
    Susan Certaine steht ungerührt auf der Einfahrt, die Aktentasche zu ihren Füßen, unter den Armen zwei gewaltige Ordner mit kartoniertem Einband, Bücher vom Umfang ungekürzter Lexika. Wie üblich ist sie in Schwarz, in einem nüchternen Nadelstreifenanzug und flachen Schuhen, die Wangen kaum merklich mit Rouge bestäubt. »Etwas früh sind wir dran«, meint sie.
    »Sie haben die Schlösser ausgewechselt.«
    Sie läßt sich Zeit, ist ohne Eile, behält die Kontrolle. »Was haben Sie denn erwartet? Sollten wir etwa zulassen, daß uns irgendwer beim Archivieren stört? Sie ahnen ja nicht, wie verzweifelt manche Kunden sind, Mr. Laxner. Und als Sie Ihr Therapieprogramm abgebrochen haben... na, jedenfalls durften wir kein Risiko eingehen.« Ein schmales, gepreßtes Lächeln. »Aber keine Angst: Ihre neuen Schlüssel habe ich dabei – zweifach, für Sie und für Marsha.«
    Ihre Absätze klicken auf dem Weg, drei geschäftsmäßige Schritte, und schon steht sie neben ihm auf den Stufen, bedrängt ihn geradezu. »Hier, würden Sie das bitte halten?« sagt sie, wuchtet ihm die beiden Bücher in die Arme und sucht in der Aktentasche nach den Schlüsseln.
    Die Bücher sind wie Hanteln, wie Eisenschrott, sie lasten in seinen Händen, daß er den Zug bis in die Schultern fühlt. »Verflucht, sind die schwer«, murmelt Julian. »Was ist das?«
    Sie steckt den Schlüssel ins Schloß und hält inne, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. »Ihr Leben, Mr. Laxner. Die Biographie Ihrer Sachen. Wußten Sie, daß Ihnen fünfhundertzweiundfünfzig Kleiderbügel aus Draht, siebenundsechzig aus Holz und einhundertneunundsechzig aus Plastik gehörten? Über zweihundert Blumentöpfe? Sechshundert Platzdeckchen? Topflappen, Mr. Laxner. Einhundertzwanzig Stück haben wir verzeichnet – können Sie sich das vorstellen? Können Sie sich irgendwen vorstellen, der einhundertzwanzig Topflappen braucht? Das ist Übermaß, Mr. Laxner.« Er sieht, wie sich ihre Lippe verächtlich schürzt. »Widerliches Übermaß.«
    Der Schlüssel greift, die Tür schwingt auf. »Da wären wir, Mr. Laxner. Jetzt ist alles organisiert «, ruft sie und wirft die Arme in die Höhe. »Willkommen in Ihrem neuen Leben!«
    Unter der Last der Kataloge wankend, betritt Julian über die leere Veranda das Haus, und hier erlebt er die nächste Überraschung: alles ist völlig leer. Ausgeweidet. Es ist nichts mehr übrig, nicht einmal ein Stuhl zum Hinsetzen. Verwirrt dreht er sich zu ihr um, aber sie geht bereits an ihm vorbei, wirbelt durch das Zimmer, die Arme ausgebreitet. Ihm bricht der Schweiß aus. Der Geruch nach Pfefferminz liegt schwer in der Luft. »Aber, hier ist ja gar nichts mehr drin«, stammelt er und bückt sich dabei, um die Verzeichnisse auf die kahlen Dielen zu legen. »Ich dachte... nun, ich dachte, Sie würden das Ganze ein wenig zurechtstutzen, alles organisieren, damit wir hier angenehmer leben können, es ins Lot rücken, meine ich...«
    »Halbherzige Maßnahmen, Mr. Laxner?« fragt sie und gleitet über den frisch gebohnerten Boden auf ihn zu. »Glauben Sie, daß halbherzige Maßnahmen einem Menschen – zwei Menschen – helfen können, die dreihundertundneun Bücherstützen, siebenundvierzig Schaukelstühle und über zweitausend Teller, Tassen und Untertassen besitzen? Das hier ist Tabula rasa, Mr. Laxner, ein völlig neuer Anfang. Wußten Sie überhaupt, daß Sie einhundertsiebenunddreißig leere Taschenlampenbatterien besaßen? Brauchen Sie wirklich einhundertsiebenunddreißig nutzlose Taschenlampenbatterien, Mr. Laxner? Nun?«
    »Nein, aber...« Verwirrt weicht er zurück, sein Zimmer, sein ganz privates Zimmer. »Aber zumindest brauche ich doch das Wichtigste: Möbel. Einen Fernseher. Meine, meine Lehrbücher. Meine Fernrohre.«
    Das Licht, das durch die jalousienlosen Fenster fällt, ist hart und unerbittlich. Jede Ecke ist dem prüfenden Blick nackt und bloß preisgegeben, jede Diele und jeder Nagel. »Alles verzeichnet, Mr. Laxner, kein Problem.« Susan Certaine steht im grellen Licht des Fensters, die Hände in die Hüften gestützt. »Jedes Paar kann pro Tag ein Stück aus dem Lager zurückfordern – jedes beliebige Stück –, und dies für die Dauer von sechzig

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