Fleischeslust - Erzaehlungen
Sie?«
Julian stellt sich ein großes, graues, unscheinbares Gebäude vor, inmitten einer dumpfen Wolke aus Smog, Männer in Bademänteln und Pyjamas, die geistlos in ihre Zeitungen glotzen, eine knackende Gegensprechanlage in den Zimmern. »Aber meine Sachen...«
»Von diesen Sachen befreien wir Sie doch gerade, Mr. Laxner. Die Sachen erdrücken Sie, rauben Ihnen den Platz, vergiften Ihre Seele. Deshalb haben Sie mich engagiert, erinnern Sie sich?« Sie schiebt ihre Tasse weg und beugt sich vor, auf dem Gesicht die altbekannte Miene: mürrisch und verächtlich. Er blickt mit einemmal in die funkelnde Leere ihrer Augen. »Wir kümmern uns um alles«, sagt sie, und ihre Stimme ist wieder tief, einfühlsam und hypnotisierend, »bis hin zu Ihrer Zahnbürste, Ihrer Hämorrhoidensalbe und den Filzpantoffeln.« Wie durch einen Taschenspielertrick lag jetzt zwischen dem Kaffeeweißer und zwei trockenen, ungebutterten Toastscheiben ein Vertragsformular. »Unterschreiben Sie hier, Mr. Laxner, gleich da unten auf der Seite.«
Julian zögert, sucht in seinen Taschen nach der Lesebrille. Den ursprünglichen Vertrag, in dem die Haftung von Certaine Enterprises hinsichtlich seiner Sachen – sowie seine und Marshas Verpflichtungen gegenüber Certaine Enterprises – auf 327 Seiten dokumentiert war, hatte er vor dem Unterzeichnen kaum flüchtig überfliegen können, und jetzt das! Ohne seine Lesebrille gelingt es ihm kaum, den Briefkopf zu entziffern. »Aber wieviel macht das, pro Tag meine ich? Marshas, äh, Behandlung kostet vierhundert Dollar täglich, ja? Was ich zahle, wird ja wohl weit weniger sein, oder?«
»Betrachten Sie es als Urlaub, Mr. Laxner. Sie machen nur einen kleinen Ausflug, sonst nichts. Und am Sonntag, wenn Sie nach Hause zurückkommen, werden Sie auch wieder Platz haben. Für immer.« Sie blickt ihm in die Augen. »Kann man das überhaupt mit Geld aufwiegen?«
Das Susan-Certaine-Kodependenten-Wohnheim liegt in einer schattigen Nebenstraße in Sherman Oaks auf dem Gelände einer ehemaligen Privatschule für Jungen, und es kostet etwa doppelt soviel wie ein gutes Hotel in Manhattan. Julian hatte aufbegehrt – es ging um Marsha, Marsha war doch das Problem, sie brauchte eine Behandlung, nicht er –, aber Susan Certaine hatte ihn bei zwei Scheiben trockenem Weizentoast niedergerungen. Er hatte ihr die Macht über sein Leben gegeben, und nun übte sie sie aus. Dafür bezahlte er, das war es, was er wollte. Er bat um nichts weiter, als noch einmal nach Hause zurückkehren und einen kleinen Koffer, eine Tasche packen zu dürfen, was sie aber ablehnte – ja sie verweigerte ihm sogar seinen eigenen Wagen. »Der Entzug muß total sein«, sagt sie nur, als sie jetzt vor dem weitläufigen Komplex aus erdfarbenen Gebäuden langsam zum Stehen kommt und ein schwarzgekleideter Bediensteter sofort herbeieilt, um ihm die Tür zu öffnen, »und zwar für beide Partner. Aber Sie werden sich hier bestimmt sehr wohl fühlen, Mr. Laxner.«
»Sie kommen nicht mit rein?« fragt er, und eine Welle der Panik ergreift ihn, als er zwischen ihr und dem Türsteher hin und her blickt.
Der schwarze Mercedes vibriert. Ein Vogel legt die Flügel an und beschreibt einen tiefen Bogen über dem Rasen. »O nein, nein, auf keinen Fall. Hier muß ich Sie verlassen, Mr. Laxner – aber Sie sind in den besten Händen, glauben Sie mir. Nein, mein Job ist es, jetzt zu diesem schwarzen Loch von Haus zurückzukehren, um es wieder bewohnbar zu machen, Ihre Sachen zu katalogisieren, sie zu organisieren. Organisieren , Mr. Laxner, das ist mein Beruf.«
Zehn Minuten später sitzt Julian in seinem Zimmer, auf der steinharten oberen Matratze des Etagenbetts, das er mit einem düster dreinblickenden Mann namens Fred teilt, und inspiziert die Ausstattung. Das Ambiente ist eindeutig asketisch, aber das soll wohl so sein. Außer dem Bett gibt es zwei Einbaukommoden, zwei Spiegel, zwei Schreibtische und zwei identische Fotoposter, die einen Blick aus der Froschperspektive auf den Salzsee von Bonneville zeigen. Zu den Toiletten und zum Gemeinschaftsduschraum geht es rechter Hand über einen mit kariertem Linoleum ausgelegten Korridor. Fred, ein großer, massiger Sack von Mann, der eine BMW-Vertretung in Encino hat, starrt trübsinnig aus dem Fenster und bemerkt nur: »Erinnert irgendwie ans Studentenheim, was?«
Am Abend gibt es eine Mahlzeit in der Cafeteria – Instant-Kartoffelbrei mit Soße, dazu irgendeine unbestimmbare verkochte Fleischsubstanz, zum
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