Fleischeslust - Erzaehlungen
Nachtisch Götterspeise –, und Julian staunt über die Menge seiner Leidensgenossen, die Männer und Frauen mit hängenden Schultern, einige auffallend jung, die in den großen Saal geschlurft kommen wie Seelen ins Fegefeuer. Auf das Essen folgt ein privates Gespräch zum Kennenlernen mit Dr. Heiko Hauskopf, dem Mann von Dr. Doris Hauskopf. Dann steht ein Informationsfilm über Sammelstörungen auf dem Programm, zum Abschluß eine Aufführung von Anatole Litvaks Anstaltsfilm Die Schlangengrube im Auditorium. Wie sich herausstellt, ist Fred einer, der im Schlaf redet, rülpst und mit den Zähnen knirscht, also verbringt Julian die Nacht hellwach, starrt in die dunkle Zimmerecke und stellt sich dort winzige, in der Leere hängende Sonnensysteme und andere strahlende Welten vor.
Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus eingetrocknetem Spiegelei und ätzendem Kaffee, setzt er sich ab. Geht ohne einen Blick zur Tür hinaus, ruft ein Funktaxi und läßt sich ins nächstbeste Motel bringen. Von dort versucht er, Marsha anzurufen, obwohl Susan Certaine ebenso wie Dr. Doris meinten, es sei besser, während der Therapiephase keinen »Kontakt miteinander aufzunehmen«. Aber er kommt nicht durch. Sie hat keine Zeit, ist nicht zu sprechen, läßt sich gerade die Nägel machen, und wer will sie da eigentlich sprechen, bitte?
Zwei Tage lang bunkert sich Julian in seinem Motelzimmer ein wie ein entsprungener Sträfling. Er fühlt sich wie ein gefährlicher, zwielichtiger Drückeberger und Penner, er läßt sich einen Stoppelbart stehen und schwelgt im Aroma seiner ungewaschenen Kleider. Er bräuchte nur ein Stück die Straße entlangzugehen, um sich wenigstens frische Unterwäsche und ein Paar Socken zu kaufen – immerhin hat er noch seine Kreditkarten –, aber etwas in ihm ist dagegen. Wie er so daliegt im sedierenden Geflimmer des Fernsehers, umgeben vom Abfall diverser Fastfood-Filialen, leise vor sich hin rülpsend und nachdenklich an der auf dem Brustkorb balancierten Bourbonflasche nuckelnd, begreift er allmählich den Sinn der Übung. Er merkt, wie schrecklich ihm Marsha fehlt, er vermißt sein Heim, sein Bett, seine Sachen. Aber das ist die Certaine-Methode – man muß die Entbehrung am eigenen Leib erleben, die Hohlheit der Fertigbilder und den langsamen Tod aus der nicht abschaltbaren Röhre und sich dann durch Entsagung läutern. Dies sind seine vierzig Tage und vierzig Nächte, dies ist seine Versuchung und seine Buße zugleich. So liegt er hingestreckt da, und als es Zeit für seinen Kurs in der Volkshochschule ist, geht er nicht hin, ruft nicht einmal an.
Am dritten Abend klingelt das Telefon. Völlig versunken in ein Fernsehdrama über eine Gruppe von jungen Musikern, Schauspielern und Fotomodellen, die sich die Miete für ein Haus am Strand von Malibu teilen, und weit fortgeschritten beim Leeren seiner zweiten Flasche Bourbon, hebt er dummerweise ab. »Mr. Laxner?« Susan Certaines harte, flache Stimme dringt über die Leitung zu ihm.
»Aber wie –?« bringt er hervor, ehe sie ihm das Wort abschneidet.
»Stellen Sie keine Fragen, hören Sie zu. Ihnen ist natürlich klar, daß Sie der Firma Certaine Enterprises laut Vertrag das Entgelt für sechs Tage Kost und Logis im Kodependenten-Wohnheim schuldig sind, egal, ob Sie die Einrichtung nutzen oder nicht...«
Es ist ihm klar.
»Gut«, schnappt sie. »Fein. Nachdem diese Frage also geregelt wäre, darf ich Ihnen mitteilen, daß Ihre Gattin sehr positiv auf die Therapie anspricht und – im Gegensatz zu Ihnen, Mr. Laxner – aus ihrem Aufenthalt in einer nichtakquisitiven Atmosphäre wirklich das Beste macht. Übrigens möchte ich Sie davor warnen, noch einmal Kontakt mit ihr aufzunehmen. Das könnte sich äußerst traumatisch und nachteilig für sie auswirken – als echter Rückschlag.«
Julian fühlt sich getreten und erniedrigt, wie mit einem spitzen Stock in seiner Höhle aufgestöbert. Er kann nur eine Entschuldigung murmeln.
Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen – Julian hört, wie sie zischend einatmet, wie die Luft mit scharfem Pfeifen durch Susan Certaines schmale Lippen rast, ihre asketische Kehle durchfährt und im Auffangbecken ihrer disziplinierten Lungen landet. »Aber die gute Nachricht«, sagt sie schließlich mit hörbarem Widerwillen, »ist, daß Sie jetzt clean sind. Clean, Mr. Laxner. So rein wie ein neugeborenes Baby.«
Julian hat einige Schwierigkeiten, sich einen Reim darauf zu machen. Sein eigener Atem geht hastig
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