Fleischeslust - Erzaehlungen
zusammen, bis sie kaum noch hörbar und nur mehr ein zögerliches, leidenschaftliches Quietschen war. »Weißt du... du fehlst mir, Casey«, hauchte sie. »Du wirst mir immer viel zuviel fehlen.«
»Hör mal, Irina, ich muß noch...« Fieberhaft überlegte ich mir eine Ausrede – die Küche stand in Flammen, meine Mutter war plötzlich mit Fleischvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, meine Messer mußten geschliffen werden –, aber sie schnitt mir das Wort ab.
»Ja, Casey, ich weiß. Du mußt noch weg. Du mußt weg. Immer gehst du weg.«
»Hör zu«, begann ich, und dann fing ich mich. »Mach’s gut«, sagte ich.
Einen Moment lang hörte ich nichts. Ich lauschte dem Knistern und Knacken der Elektrostatik. Dann endlich wieder ihre Stimme, das dünnste Stimmchen der Welt. »Ja«, sagte sie. »Mach’s gut.«
Ich lernte sie kennen – das heißt, unsere Wege kreuzten sich –, weil mich ein Freund beauftragt hatte, sie abzuholen. Sie stand am Gepäckband des Tom Bradley International Terminal im Flughafen von Los Angeles. Ich war spät dran – mein alter Fehler, ich geb’s ja zu – und gleich aus mehrerlei Gründen nervös: würde ich sie erkennen oder verpassen, wo würde sie schlafen und wo sollten wir essen, und wegen hundert anderer Dinge, angefangen von meiner totalen Unkenntnis des Russischen über meine wenigen flüchtigen Begegnungen mit den Großen der russischen Literatur bis zu der Angst, sie könnte mir meine Jeans für ein Bündel Rubel abkaufen wollen. Während ich durch die Flughafengänge joggte und übernächtigten Sikhs, jovialen Briten und umsichtigen Geschäftsleuten aus Japan und Korea auswich, rasten mir die klingenden Namen – Solschenizyn, Tschechow, Dostojewski, Tolstoi – wie Beschwörungsformeln durch den Kopf, bis ich sie plötzlich sah.
Sie war nicht zu verfehlen. Rob Peterman hatte mir eine Beschreibung gegeben – achtundzwanzig, blond, eine Figur, direkt aus dem Bolschoi-Ballett, umwerfendes Gesicht –, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Sie war Mittelpunkt eines wahren Mahlstroms von Bewegung, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen einen Plastikbecher voll Wodka, all ihre Sachen in zyklonartigem Wirrwarr rings um sich verstreut: Zeitungen, Gepäck, Make-up, Papierservietten und -taschentücher, ein Pullover, mehrere Handtaschen, ein halbes Dutzend Stofftiere und eine Dodgers-Schirmmütze – das alles nahm die zwei Sitzreihen hinter ihr ein. Sie war mitten in einer angeregten Diskussion mit drei stark angeheiterten Managern in zerknitterten Anzügen – über die Perestroika, die Unabhängigkeit Litauens, die Gefahr eines Atomkriegs und die relativen Vorteile des Jaguar XJS im Vergleich zum Mercedes 560 SEC. Ihre Zigarette – »eine Gauloises natürlich, was denn sonst?« – beschrieb einen Bogen in der Luft, die hoffnungslos altmodischen Go-go-Stiefel tanzten eine Mazurka über den Teppichboden, wobei der Fransensaum ihrer babyblauen Lacklederjacke bebend hin und her schwang. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Nach meinem Sprint quer durch den Flughafen schwitzte ich und hatte offenbar den irren Blick eines Mannes, der in einer brennenden Scheune gefangen ist.
»Und wissen Sie, was gebe ich Ihnen für diesen Mercedes?« wollte sie von dem kleinsten, zerknittertsten Geschäftsmann wissen. »Na?«
Keine Antwort. Alle drei starrten sie nur an, mit leicht geöffnetem Mund, als wäre sie soeben aus dem fernsten Winkel des Weltalls gelandet.
»Nitschewo.« Ein leises Lachen entschlüpfte ihr. »So heißt ›nichts‹ auf russisch. Nitschewo .«
Ich schob mich in ihren Gesichtskreis und machte eine beschwichtigende Gebärde, indem ich mit erhobenen Händen einen zugleich entschuldigenden und klagenden Kreis beschrieb. »Irina?« fragte ich.
Sie sah mich an, unterbrach sich mitten im Satz und fixierte mich mit ihren milchigblauen – und kaum merklich hervortretenden – Augen. Dann grinste sie und schenkte mir ein erstes schmales Lächeln, das spitze Zähne entblößte, und ich spürte einen heißen Schwall, als das Blut mich durchschoß: ein russisches Lächeln, dachte ich, mein erstes russisches Lächeln. »Casey«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag kein fragender Unterton, kein Zweifel. »Casey.« Und dann wandte sie sich von ihren drei Gesprächspartnern ab, entließ sie aus ihrem Universum, als hätten sie nie existiert, und fiel mir in die Arme.
Für Wünsche braucht sich niemand zu schämen, und Irina hatte jede Menge Wünsche. »Wo ich
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