Fleischeslust - Erzaehlungen
so viele Truthähne rausscheuchst wie möglich.«
Ich hatte aber Angst. Vor praktisch allem: vor einem halbverrückten Bauern mit einer Schrotflinte, einer Kalaschnikow oder was immer die heutzutage mit sich rumschleppten, davor, daß ich Alena im Nebel verlieren könnte, und vor den Truthähnen selbst. Wie groß waren die eigentlich? Waren sie aggressiv? Immerhin hatten sie ja wohl Klauen und scharfe Schnäbel? Was würden sie wohl davon halten, wenn ich mitten in der Nacht in ihr Schlafzimmer eindrang?
»Und wenn die Benzinkanister hochgehen, dann rennst du zurück zum Wagen, verstanden?«
Ich konnte die Puten im Schlaf zappeln hören. Auf der Schnellstraße wechselte ein Lastwagen krachend den Gang. »Glaube schon«, flüsterte ich.
»Und noch was – laß auf jeden Fall den Zündschlüssel stecken.«
Dies ließ mich innehalten. »Aber –«
»Zum Abhauen.« Alena war mir so nahe, daß ich ihren Atem im Ohr spürte. »Ich meine, wir wollen doch nachher nicht lange nach den Schlüsseln wühlen müssen, wenn da draußen die Hölle los ist, oder?«
Ich öffnete die Tür noch einmal und steckte den Zündschlüssel wieder ein, obwohl mich der Automatiksummer davor warnte. »Gut«, murmelte ich, aber sie waren schon weg, aufgesogen von den Schatten und vom Nebel. Inzwischen hämmerte mein Herz so laut, daß ich kaum noch das Kratzen der Tiere hörte – das ist Wahnsinn, sagte ich mir, es ist falsch und verkehrt, und illegal ist es obendrein. Aufgesprayte Slogans waren eine Sache, aber das hier war etwas völlig anderes. Ich dachte an den schlafenden Truthahnfarmer in seinem Bett: ein Kleinunternehmer, der mit seiner Arbeit Amerika stark machte, ein Mann mit Frau und Kindern und einer Hypothek im Nacken... aber dann dachte ich an all die unschuldigen Puten und Puter, die dem Tode geweiht waren, und schließlich dachte ich an Alena, an ihre langen Beine und ihre zärtliche Art und wie sie aus dem Dunkel des Badezimmers und dem Rauschen der Brandung zu mir kam. Ich setzte die Blechschere am Drahtzaun an.
Ich mußte wohl eine halbe oder dreiviertel Stunde lang drauflosgeschnitten haben und näherte mich langsam den großen weißen Ställen, die sich inzwischen vor mir aus der Dunkelheit schälten, als ich links von mir Rolfes Taschenlampe aufblinken sah. Das war das Signal für mich, zum nächstgelegenen Stall zu laufen, das Schloß aufzubrechen, die Tür aufzureißen und den ganzen Trupp mißtrauischer, griesgrämiger Kollerer in die Nacht hinauszuscheuchen. Jetzt oder nie. Ich blickte mich zweimal um und lief dann linkisch und leicht gebückt auf den nächsten Stall zu. Die Puten dürften gespürt haben, daß etwas im Busch war – hinter der langen weißen, fensterlosen Mauer erhob sich ein argwöhnisches Brabbeln, das Geraschel von Federn brauste auf wie ein Windstoß in den Baumwipfeln. Harret aus, ihr Puter und Puten , dachte ich, die Freiheit ist nah! Ein kurzer Ruck mit der Brechstange, und das Vorhängeschloß fiel zu Boden. Während mir das Blut in den Ohren pochte, packte ich die Schiebetür und riß sie mit einem mächtigen, dumpfen Donnern auf – und da waren sie auf einmal: Truthähne, Tausende und Abertausende von ihnen, aufgeplustertes weißes Gefieder im Schein einer Reihe mattgelber Glühbirnen. Das Licht funkelte in ihren Reptilienaugen. Irgendwo begann ein Hund zu bellen.
Ich stählte mich und hechtete mit einem Schrei durch die Tür, die Brechstange wild über dem Kopf schwenkend: »Also los!« brüllte ich, und das Echo wiederholte meinen Ruf gleich mehrere hundert Male, »es ist soweit, Truthähne! Macht euch auf die Beine!« Nichts. Keine Reaktion. Hätten sie nicht mit den Federn geraschelt und die Köpfe so wachsam emporgereckt, hätten es Skulpturen sein können, ausgeschüttelte Kissen, sie hätten ebensogut längst tot und geschlachtet sein können, auf einer Servierplatte angerichtet mit Yams und Zwiebeln. Das Hundegebell wurde eine Spur lauter. Ich glaubte, Stimmen zu hören.
Die Truthähne kauerten auf dem Betonfußboden, Welle um Welle von ihnen, dumpf und ungerührt; sie hockten auf den Dachsparren, auf Brettern und Vorsprüngen, drängten sich in hölzernen Gestellen. Wild entschlossen stürmte ich auf die vorderste Reihe zu, meine Brechstange schwenkend, mit den Füßen stampfend und johlend wie der Knochennager, der ich einst gewesen war. Das war genug. Der erste Vogel stieß einen Schrei aus, den die anderen sofort aufnahmen, bis ein unheiliges Krakeelen den Stall erfüllte,
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