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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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gerupft, ausgenommen und auf einer silbernen Platte serviert.
    Ich fand den Rückweg durch Calpurnia Springs ohne Zwischenfall – keine Straßensperren, keine blinkenden Lichter oder grimmigen Streifenpolizisten, die Kofferräume und Rückbänke nach einem schlaksigen, dreißigjährigen Öko-Terroristen durchsuchten, dessen Rücken von Truthahnkrallen gezeichnet war –, doch nachdem ich auf die Schnellstraße nach Los Angeles eingebogen war, erlebte ich einen Schock. Nach etwa fünfzehn Kilometern schälte sich mein Alptraum aus dem Dunst: überall blinkten rote Warnlampen, waren Absperrungen, und am Straßenrand standen reihenweise Polizeiwagen. Ich war einer Panik nahe, kaum einen Herzschlag davon entfernt, mit Vollgas den Mittelstreifen zu durchbrechen und sie zu einer Verfolgungsjagd aufzufordern, als ich den verunglückten Sattelschlepper weiter vorn sah. Ich wurde langsamer, sechzig, fünfzig, dann mußte ich heftig bremsen. Im nächsten Moment steckte ich in einem Stau, und vor mir war die Straße mit etwas bedeckt, das gespenstisch weiß im Nebel schimmerte. Zuerst dachte ich, es sei die Ladung des LKW, Klopapierrollen oder Kisten mit Waschpulver, die beim Herabfallen aufgeplatzt waren. Aber es war etwas anderes. Als ich im Kriechtempo näher heranfuhr, die pulsierenden Lichter flackerten mir ins Gesicht, sah ich, daß die Straße mit Federn übersät war – mit Truthahnfedern. Ein weißer Sturm. Ein Blizzard. Und nicht nur das: es war auch alles voller Fleisch, glitschig und glibbrig, eine rote Schmiere, die mit dem Straßenpflaster fest verklebt war, von den Rädern meiner Vordermänner wie Schlamm wegspritzte und von den mächtigen Zwillingsreifen der Sattelschlepper zerquetscht wurde. Truthähne, Truthähne überall.
    Das Auto rollte langsam weiter. Ich schaltete die Scheibenwischer ein, drückte auf den Knopf der Waschanlage, und einen Moment lang wurde die Scheibe von einem Film aus Blut und Schleim verfinstert, und das Hohle in meinem Innern öffnete sich wieder, so daß ich glaubte, es würde mich in sich aufsaugen. Hinter mir drückte jemand auf die Hupe. Im Zwielicht wurde ein Streifenpolizist sichtbar und winkte mich mit dem toten gelben Auge seiner Taschenlampe vorbei. Ich dachte an Alena, und mir wurde schlecht. Von allem, was zwischen uns gewesen war, blieb das hier übrig: sauer gewordene Hoffnungen, Glitsch auf der Straße. Ich wollte aussteigen und mich erschießen, mich der Polizei stellen, die Augen schließen und im Knast aufwachen, in einem härenen Hemd, einer Zwangsjacke, egal. Aber es ging vorbei. Die Zeit blieb nicht stehen. Nichts rührte sich. Und dann, ganz wundersam, schälte sich vor der schlierigen Scheibe eine Vision aus dem grauen Bauch des Nebels: goldgelb schimmernde Lichter in der Ödnis. Ich sah das Hinweisschild »Tanken – Motel – Restaurant«, und schon war meine Hand am Blinker.
    Ich zögerte einen Augenblick, stellte mir den Raum vor, die häßlichen Fliesen, die falsche Fröhlichkeit der Beleuchtung, den Geruch nach verschmortem Fleisch, der schwer in der Luft hing, Big Mac, Grillhähnchen, Carne asada, Cheeseburger. Der Motor spotzte. Die Lichter schimmerten. In diesem Moment dachte ich nicht an Alena oder an Rolfe oder an Grizzlybären, dachte weder an todgeweihte blökende Herden noch an blinde Kaninchen oder krebskranke Mäuse – ich dachte nur an die Höhlung, die sich in mir auftat, und wie ich sie füllen konnte. »Fleisch«, ich sagte das Wort laut vor mich hin, sprach es wie zu meiner eigenen Beruhigung aus, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht, »es ist doch nur Fleisch.«

Die 100 Gesichter des Todes,
Folge IV
    Er wußte, daß er echt Mist gebaut hatte. Auf eine ganz gewaltige und nicht wiedergutzumachende Weise. Man sah deutlich, wie diese Erkenntnis in seinen Augen Gestalt annahm – die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen wie hartgekochte Eier, die ihm durch den Schädel gepreßt wurden –, und die Kamera blieb fest auf ihn gerichtet. Er war auf einer Bühne, hervorragend beleuchtet, und ein breites Banner proklamierte DER GROSSE RENALDO – ENTFESSELUNGSKÜNSTLER . Der Schweiß rann ihm herunter. Troff von ihm herab. Seine Poren waren riesengroß, prall gefüllt, enorme Krater, die sein Gesicht wie eitrige Pusteln übersäten. Zwei Meter über ihm hing an einem Flaschenzug ein geschmolzener Meteorit aus Schrottmetall von der Größe eines LKW -Motors, dessen Unterseite mit den blitzenden spitzen Zähnen von einhundert

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