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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Kummer, Empörung und Entschlossenheit vermengten. Ich dachte an die vielen Truthähne, die ich selbst ins Jenseits befördert hatte, an die abgenagten Brustknochen, die fetten Bürzel und die knusprige braune Haut, die ich als Kind am liebsten gemocht hatte. Es verursachte mir einen Klumpen in der Kehle, und noch etwas: ich merkte, daß ich Hunger hatte.
    »Ben Franklin wollte den Truthahn zum nationalen Wahrzeichen machen«, flötete Alena, »wußtet ihr das? Aber die Fleischfresser waren dagegen.«
    »Es geht um fünfzigtausend Vögel«, sagte Rolfe, sah kurz zu Alena und ließ dann seinen brennenden Blick wieder auf mir ruhen. »Ich habe Informationen, daß sie morgen mit dem Schlachten anfangen wollen, für das Frischfleischgeschäft.«
    »Yuppie-Geflügel!« In Alenas Stimme schwang Ekel mit.
    Eine Zeitlang sprach niemand. Ich hörte das Knistern des Feuers. Der Nebel drängte gegen die Fenster. Es wurde dunkel.
    »Man kann die Farm von der Straße aus sehen«, sagte Rolfe schließlich, »aber hin kommt man nur über Calpurnia Springs. Es sind gut fünfunddreißig Kilometer – siebenunddreißig Komma neun, um genau zu sein.«
    Alenas Augen leuchteten. Sie starrte Rolfe an, als wäre er soeben vom Himmel gefallen. Ich spürte, wie sich mir etwas im Magen umdrehte.
    »Wir schlagen noch heute nacht zu.«
    Rolfe bestand darauf, daß wir mein Auto nahmen – »Meinen Pick-up kennt jeder in der Gegend hier, und wegen einer so kleinen Aktion kann ich kein Risiko eingehen« –, aber wenigstens verdeckten wir die Kennzeichen hinten und vorn mit einer dicken Schicht Schlamm. Dann schwärzten wir uns die Gesichter, als wären wir Mitglieder eines Spezialkommandos, und luden aus dem Schuppen hinter Rolfes Haus das Werkzeug ein: Drahtschere, Brecheisen und zwei 25-Liter-Kanister voll Benzin. »Benzin?« fragte ich und hob das schwere Gefäß probeweise an. Rolfe fixierte mich unverwandt. »Als Ablenkungsmanöver«, sagte er. Alf blieb aus verständlichen Gründen in der Hütte zurück.
    War der Nebel am Tag schon dicht gewesen, so schien er jetzt undurchdringlich: der Himmel stürzte einfach auf die Erde herab. Sogar die Scheinwerfer wurden davon gepackt und auf mich zurückgeworfen, bis mir von der Anstrengung, den Wagen auf der Straße zu halten, die Augen tränten. Wären die Spurrillen und Schlaglöcher nicht gewesen, hätte man meinen können, wir trieben im Nichts. Alena saß vorn zwischen Rolfe und mir, merkwürdig schweigsam. Auch Rolfe hatte wenig zu sagen, gelegentlich knurrte er Anweisungen: »Da vorne rechts«, »Scharf links jetzt«, »Langsam, langsam«. Ich dachte an Fleisch, ans Gefängnis und an die heroischen Dimensionen, die ich in Alenas Augen bald annehmen würde, und daran, was ich mit ihr tun würde, wenn wir doch irgendwann ins Bett kämen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte zwei Uhr früh.
    »So«, sagte Rolfe so abrupt, daß ich davon aufschreckte, »fahr hier rechts ran – und mach das Licht aus.«
    Wir stiegen aus, in die Stille der Nacht, und drückten leise die Türen hinter uns zu. Sehen konnte ich nichts, aber ich hörte das nicht so ferne Rauschen des Verkehrs auf der Straße – und ein anderes Geräusch, gedämpft und undeutlich, das leise, unbewußte Atmen von Tausenden und Abertausenden meiner Mitgeschöpfe. Und ich konnte sie riechen: den gärenden, ranzigen Gestank nach Kot und Federn und nackten schuppigen Füßen, der mir in der Nase brannte und in die Kehle fuhr. »Puhh!« flüsterte ich. »Ich kann sie riechen.«
    Rolfe und Alena waren verschwommene Gestalten neben mir. Rolfe öffnete den Kofferraum, und im nächsten Moment spürte ich das Gewicht eines Brecheisens und eines Seitenschneiders in der Hand. »Hör zu jetzt, Jim«, raunte Rolfe, packte mit eisernem Griff mein Handgelenk und führte mich ein halbes Dutzend Schritte vorwärts. »Spürst du das?«
    Ich spürte Maschendraht, den er im selben Moment zerschnitt: knips, knips, knips.
    »Das hier ist ihre Umfriedung – tagsüber sind sie hier draußen und scharren im Dreck. Wenn du dich verirrst, folg einfach diesem Draht. Also: du wirst jetzt den Zaun in dieser Richtung aufschneiden, Alena geht nach Westen und ich nach Süden. Wenn wir fertig sind, gebe ich ein Zeichen mit der Taschenlampe, und wir treten die Tür zu den Truthahnställen ein – das sind diese niedrigen weißen Bauten, du wirst sie sehen, wenn du nahe dran bist – und scheuchen die Vögel hinaus. Hab keine Angst um mich oder Alena. Wichtig ist nur, daß du

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