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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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so, als hätte er die letzte Runde in einem Moto-Cross vor sich. Bedauerlicherweise – und dies war der morbide Kitzel bei der Erzählrunde: immer war der Geschichte ein empathisches Adverb angefügt, ein »Leider«, ein »Dummerweise« oder ein »Bedauerlicherweise«, das den Zuhörern das Herz schneller schlagen ließ – bedauerlicherweise also staute sich in diesem Moment der Verkehr abrupt, der Fahrer trat voll auf die Bremse, und der Eben-noch-Moto-Cross-Champion knallte seitlich gegen die Fahrerkabine und segelte dann durch die Luft wie ein Akrobat. Und akrobatengleich rappelte er sich wie durch ein Wunder gänzlich unversehrt auf. Der ältere Typ machte ein Pause, schnippte die Asche weg. Bedauerlicherweise jedoch – da war es wieder – erwischte ihn das nächste Auto mit hundert Sachen an der Hüfte und schleuderte ihn unter die Räder eines Sattelschleppers auf der Nebenspur. Acht weitere Wagen überrollten ihn, ehe der Verkehr zum Stillstand kam, und dann war nichts mehr von ihm übrig außer einem Fettfleck mit Haaren.
    Hilary erzählte die Geschichte vom »Tigermann«: dieser Bursche hatte ein ganzes Jahr täglich acht Stunden lang vor dem Tigergehege im Zoo von L.A. gestanden und war dann plötzlich auf dem Ast eines Eukalyptusbaums entdeckt worden, der zehn Meter in das offene Gehege hineinragte – genau in dem Augenblick, als er das Gleichgewicht verlor. Sie hatte damals an dem Erfrischungsstand gleich daneben gearbeitet, als Sommerjob während des Studiums, und sie hörte die Leute rings um die Einfassungsmauer schreien und das Brüllen und Fauchen der Tiger und dachte erst, die Tiere würden miteinander kämpfen. Als sie dazukam, war der Tigermann schon in zwei Stücke gerissen, und seine Gedärme lagen auf dem Gras verstreut wie blaue Würste. Einen der Tiger hatten sie erschießen müssen, um den war es schade gewesen, jammerschade.
    Als nächster war Jamie an der Reihe. Er legte mit der Story vom Großen Renaldo los, als wäre es ein Augenzeugenbericht. »Also, das Ganze passierte in diesem Zirkus in Guadalajara«, begann er, und meine Gedanken schweiften ab.
    Danach war ich dran, und der einzige Tod, von dem ich erzählen konnte, der einzige, den ich von Angesicht zu Angesicht miterlebt und nicht nur auf irgendeinem voyeuristischen Video oder den Seiten von Newsweek oder Soldier of Fortune gesehen hatte – ein richtiger Tod, das Erlöschen des Blickes, der schlaff werdende Druck der Hände, der Übergang vom Belebten zum Leblosen –, von dem hatte ich noch nie gesprochen, zu niemandem. Sein Gesicht ging mir in seltsamen Momenten durch den Kopf: beim Aufwachen, beim Starten des Autos, im unpersönlichen Dunkel des Kinos, ehe der Vorspann über die Leinwand lief. Ich wollte nicht davon erzählen. Und würde es auch nicht tun. Wenn Jamie geendet hatte, würde ich mich entschuldigen, die Klotür hinter mir verriegeln, mich über die Schüssel beugen und die Spülung drücken und nochmals drücken, bis sie mich alle vergessen hatten.
    Ich war sechzehn. Ich war in der Schwimmermannschaft unserer Schule, eine aufsteigende Hoffnung, ich trainierte, bis ich keine Puste mehr hatte, und malte mir aus, wie ich im Sommer um das Schwimmbad unserer Gemeinde stolzieren würde, eine Trillerpfeife um den Hals. Den Rettungsschwimmerkurs der Küstenwache hatte ich mit glänzendem Ergebnis absolviert. Es war Mai, ein ungewöhnlich sengend heißer Tag, und ich fuhr mit dem tuberkulösen Ford meiner Mutter ans Meer, zu einem relativ abgeschiedenen Strand, den ich kannte. Ich hatte vor, im Sand ein paar Sprints gegen den Wind hinzulegen und meine kantigen Schultern und stählernen Beine mit den elementaren Wogen des Pazifiks zu messen. Aber soweit kam es nicht. Bedauerlicherweise. Als ich von der Straße zum Strand hinunterging, lief mir ein neun- oder zehnjähriger Mexikanerjunge entgegen, hektisch und in blinder Flucht rannte er den Trampelpfad auf mich zu. Er hatte spindeldürre Arme und Beine, seine Augen waren rotgerändert, und die Panik ritt ihn wie ein Jockey. »Socorro!« rief er, die Silben blieben ihm in der Kehle stecken, würgten ihn. »Socorro!« wiederholte er, stellte sich auf die Zehenspitzen, um mich mit festem, feuchtem Griff am Arm zu packen, und dann rannten wir beide los.
    Auf dem Sand waberten die Lichtreflexe, die Gischt schäumte bis zum Horizont unter dem blendenden, schmerzhaft gleißenden Himmel. Ich spürte meine Beine, und da war er, der Moment, das Gesicht des Todes, dort vor mir in

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