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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Ausflug ins Museum gemacht, zusammen mit ein paar anderen Insassen des Altersheims, in dem sie seit Nixons Präsidentschaft untergebracht war, und der Pfleger hatte sie oben auf der Rampe am Hinterausgang der Museumscafeteria stehenlassen und dabei versäumt, die Bremse hinten an den Rädern ihres Rollstuhls richtig festzuklemmen. Tante Marion litt an einer progressiven Nervenkrankheit, die ihre Gliedmaßen langsam unbrauchbar machte – ihren motorisierten Rollstuhl konnte sie nur mit Hilfe eines Joysticks steuern, den sie sich zwischen die Zähne nahm, und auch das nur in ihren guten Momenten. Allein gelassen am höchsten Punkt der Rampe, während der Pfleger den nächsten Patienten holen ging, fühlte Tante Marion, wie ihr Stuhl sich unerbittlich vorwärts bewegte. Allmählich wurde sie schneller, und eine der beiden Zeuginnen des Unfalls behauptete, sie hätte sich mit dem Gesicht über den Steuerknüppel gebeugt, um anzuhalten, während die andere darauf beharrte, sie habe überhaupt nichts zu ihrer Rettung unternommen, sondern sei ganz einfach die Rampe hinab und hinein in die Ewigkeit gerollt, ein eingefrorenes schmales Lächeln auf den Lippen. Auf jeden Fall ließ sich Schuld zuweisen, eine sehr spezifische, unleugbare Schuld, eine Kette von Ursache und Wirkung, die Tante Marions Entfernung aus dieser Daseinssphäre erklärte, und letzten Endes verschaffte dies meiner Mutter einen gewissen Trost.
    Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mir Tante Marions Gesicht im Todeskampf nicht vorstellen. Mein eigenes Blut war beteiligt, meine eigene Nase. Und doch war alles irgendwie fern von mir, weit weg, und der Tod des Großen Renaldo blieb mir auf eine Weise nahe, wie es der von Tante Marion nie hätte sein können. Ich weiß nicht, was ich an diesem Wochenende dann noch machte, aber in der Rückschau fällt mir die Küstenstraße ein, ein offenes Kabriolett, Jamie, eine ganze Reihe von Bars mit bunt angestrahlten Tanzflächen und Terrassen und Frauen, die überaus lebendig waren.
    Janine versank in Vergessenheit, ebenso wie Carmen, Eugenie und Katrinka, und Jamie zog weiter durch die große blutende Welt. Er verbrachte die nächsten acht Monate damit, die finstersten Ecken von Ländern zu erforschen, die zwischendurch mehrmals den Namen wechselten, die Sorte Gegend, in deren Straßen Menschen so selbstverständlich den Tod fanden, wie Blumen in der Erde keimten und Tauben die Denkmäler des Generalissimo des Monats vollkackten. Ich arbeitete. Setzte Geld um. Jemand schenkte mir eine Katze. Sie schiß in eine Kiste unter der Spüle und erfüllte das Haus mit Friedhofsgestank.
    Jamie war schon seit zwei Monaten zurück, ehe er bei mir vorbeischaute, um mich zu einer Party in der riesigen Nekropolis des San Fernando Valley einzuladen. Er hatte jetzt eine Stelle: fünf Tage die Woche impfte er den Sechs- bis Siebenjährigen an der Thomas-Jefferson-Grundschule von Pacoima moralisches Denken ein, die Wochenenden behielt er seinen pubertären Leidenschaften vor. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr er mir gefehlt hatte, bis ich ihn vor meiner Wohnung stehen sah. Er sah aus wie früher – schlaksig, glubschäugig, ein gerupftes Huhn im Surferdreß –, bis auf die Nase. Sie war entzündet, verstümmelt, ein Klumpen Fleisch, den irgendein wahnsinniger Leichenräuber ihm auf das Gesicht aufgepfropft hatte. »Was ist mit deiner Nase passiert?« fragte ich, auf alles Vorgeplänkel verzichtend.
    Er zögerte und brachte unter dem Verandalicht langsam ein Grinsen zustande. »Hab in ’ner Bar Streit gekriegt«, sagte er. »Der Kerl hat sie mir abgebissen.«
    Sie hatten ihm die Nasenspitze wieder angenäht – nicht ganz an der richtigen Stelle, denn sie würde wohl für immer fast unmerklich nach links weisen –, aber etwas anderes fand er viel interessanter. Er schob sich an mir vorbei ins Wohnzimmer, kramte eine Zeitlang in der Tasche und reichte mir dann eine Serie von Schnappschüssen: Nahaufnahmen seines Gesichts kurz nach der Operation. Gestärkte weiße Laken, ein Nest aus Kopfkissen, Jamies triumphierendes Grinsen und eine seltsame, glänzende schwarze Linie auf seinem Nasenrücken, dort wo der Verband sein sollte. Die Fotos zeigten das schwarze Ding von oben, von unten, von vorn und im Profil. Jamie sah mir über die Schulter. Er sagte kein Wort, atmete aber rasch und flach. »Also, was ist das?« fragte ich und drehte mich herum. »Was soll das darstellen?«
    Ein Wort, saftig wie Fruchteis:

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