Fleischeslust - Erzaehlungen
»Blutegel.«
»Blutegel?«
Er kostete den Moment aus, das Rampenlicht. »Genau, Alter, ist das Allerneueste. Die nehmen sie, um die kleinen Blutgefäße wiederherzustellen, diese Kapillaren und so, die sich nicht vernähen lassen. Das Saugen bringt’s«, und dabei machte er ein schmatzendes Geräusch. »Saug, saug, saug. Ich habe sie drei Tage lang auf der Nase mit rumgeschleppt – und jedem im Krankenhaus einen Heidenschreck damit eingejagt.« Er sah mir in die Augen. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab. »Nur mit nach Hause durfte ich sie nicht nehmen – das war echt Scheiße.«
Auf der Party waren sieben Leute – drei Frauen und vier Männer, uns eingeschlossen –, wir saßen um einen bürgerlichen Eßtisch und knabberten Carnitas, dazu spielte die Stereoanlage leise, kaum hörbar, einen aufrührerischen Rap. Die Gastgeber hießen Hilary und Stefan, ihr Haus lag in Hörweite des Ventura Freeway, und sie lehrten zusammen mit Jamie an der Grundschule von Pacoima. Hilarys Schwester Judy war auch da, das Endprodukt von psychosomatischen Diäten und Bräunungsstudios, zusammen mit ihrer Freundin Marsha und einem Mann Mitte Vierzig mit aufgeföntem Haar und Ziegenbärtchen, dessen Namen ich nie recht verstand. Wir tranken Bier mit etlichen Tequilas dazwischen und aßen Flan zum Nachtisch. Die Unterhaltung drehte sich um Jamies Nase, Blutegel, geregelten Stuhlgang und den Tod. Ich weiß nicht, wie wir eigentlich darauf kamen, aber nach dem Essen setzten wir uns gemächlich in zwei weiche avocadofarbene Sofas und eröffneten unsere Anthologie der letzten Augenblicke. Ich machte vom Klo den Umweg über die Küche, um mir ein neues Bier zu holen, und kam wieder dazu, als Judy, in ihre Sonnenbräune eingehüllt, als wäre sie einem Sarkophag von Karnak entstiegen, die Geschichte eines Studentenpärchens erzählte, die beide die Natur und einander liebten und von Point Dume aus eine Kajaktour unternahmen.
Es war Winter, und das Wasser war kalt. Eine ganze Serie von Stürmen war aus dem Golf von Alaska herangezogen, und von den Hügeln troff der Schlamm. Im San Fernando Valley hatte es Frost gegeben, und Judys Mutter war eine zwanzig Jahre alte Bougainvillea eingegangen. Ein fatales Ingredienz, die Kälte. Die gefährlichen Haie – die großen weißen – blieben normalerweise weit im Norden, in der Nähe der San Francisco Bay, um die Farallon Islands und jenseits davon, bei den Seehunden. Denn davon ernährten sie sich: von Seehunden.
In Judys Geschichte hatte das Pärchen die Kajaks aneinandergebunden und sich dann ausgeruht, ein Sandwich gegessen, vielleicht waren sie sogar aufeinander scharf geworden – hatten sich geküßt und durch die Neoprenanzüge hindurch befummelt. Der Hai hätte eigentlich nicht dasein sollen. Er hätte die Rümpfe ihrer Kajaks nicht für die Silhouetten von zwei fetten, saftigen, träge herumdümpelnden Seehunden halten sollen, aber er tat es. Das Mädchen ertrank, weil sie wegen des Blutverlusts und der Kälte des Wassers das Bewußtsein verlor. Ihr Freund wurde nie gefunden.
»Meine Güte«, sagte der ältere Typ und hob die Hände. »Schlimm genug, den Löffel abgeben zu müssen, aber als Haifischkacke zu enden...«
Jamie, der leise in seine Bierflasche gepustet hatte, wirkte irritiert. »Aber woher weißt du das alles?« wollte er wissen und sah dabei Judy an. »Ich meine, bist du dabeigewesen? Hast du zugesehen, vielleicht von einem anderen Schiff aus?«
Sie hatte nicht zugesehen. War nicht dabeigewesen. Hatte nur in den Zeitungen davon gelesen.
»Mm-mh«, sagte Jamie vorwurfsvoll und hob mahnend den Zeigefinger. »Das gilt nicht. Man muß dabeigewesen sein, es tatsächlich selbst gesehen haben.«
Der ältere Typ beugte sich vor, zündete sich eine Zigarette an und erzählte von einem Unfall, den er auf der Autobahn beobachtet hatte. Er war auf dem Rückweg aus der Wüste, es war Montag abend, irgendein Feiertag, und wegen des langen Wochenendes herrschte viel Verkehr, aber man kam noch zügig voran. Vier Burschen in einem Pritschenwagen hatten ihn überholt – drei vorn im Führerhaus, der vierte hinten auf der Ladefläche, neben ihm ein Motorrad, stehend aufgebockt. Sie fuhren rechts an ihm vorbei, und zwar mit ziemlichem Tempo. Der Junge, der hinten saß, fühlte sich wohl etwas gelangweilt und einsam, deshalb schwang er sich zum Spaß auf das Motorrad. Er nahm auf dem Sitz Platz, lehnte sich gegen den Fahrtwind, der über das Führerhäuschen pfiff, und tat
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