Fleischeslust - Erzaehlungen
gehärteten Küchenmessern aus den Schmieden Guadalajaras gespickt war. Renaldos Arme waren mit Handschellen an seine Fußknöchel geschnallt, und etwas, das aussah wie die Ankerkette eines Schleppdampfers, war sechs- bis achtmal um seinen Körper geschlungen und dann mit dem Betonfußboden verschraubt. Seine reizende Assistentin, eine stark geschminkte Frau, deren Oberschenkel aus ihrem Röckchen hervorquollen wie große, kupferfarben gebratene Keulen, machte ein Gesicht, als wäre jeder Schrecken und jeder Alptraum ihres Lebens im bitteren Ausfluß dieses Augenblicks destilliert. Dieser Teil gehörte eindeutig nicht zu der Nummer.
»Jetzt sieh hin«, sagte Jamie. »Sieh dir das an.«
Janine packte meine Hand fester. Das Zimmer ringsherum wurde enger. Das Bier in meiner freien Hand war warm geworden, und als ich es an die Lippen hob, schmeckte es nach Hefe und Alu. Und was fühlte ich? Ich fühlte mich so, wie die reizende Assistentin aussah, fühlte dieselbe kalte Mischung aus Ekel und Erregung, von der ich erfaßt worden war, als ich mit vierzehn meinen ersten Pornofilm sah, fühlte eine behaarte Hand, die mir an die Kehle fuhr und dort einen kleinen Hebel umlegte.
Als das Video anfing, noch während des Vorspanns, steckte zwischen Renaldos Zähnen ein Reisighalm – ein einzelner Reisigstrohhalm, gelb und starr, der kleinste Bestandteil eines Besens. Er neigte sich vor und bugsierte den harten Halm in die winzige Öffnung des Handschellenschlosses. Jetzt aber, wohl weil ihm allmählich dämmerte, daß dies nicht sein Tag und die Konsequenz dieser Tatsache unwiderruflich war, begannen seine Lippen zu zittern, so daß ihm der Strohhalm aus dem Mund fiel. Die reizende Assistentin grinste verkrampft in die Kamera und versuchte dann, vorzupreschen und jenes unerläßliche Stückchen Vegetation in den Mund des Artisten zurückzubugsieren, doch es war zu spät. Mit einem dumpfen, schlürfenden Ton, dem Geräusch von Autoreifen, die durch nassen Schnee rollen, löste der Zeitschalter den Mechanismus aus, der den eisernen Monolithen herabfallen ließ, und Renaldo war nicht mehr.
Jamie sagte etwas in der Art: »Der Typ hat ganz schön was abgekriegt.« Und dann: »Noch jemand ein Bier?«
Ich sah mir noch weitere neunundneunzig Permutationen des letzten Augenblicks an, unterschiedlich beleuchtet und mal leidenschaftlich, mal ungerührt dargestellt, sah mir an, wie der Bankräuber mit Skimütze und einer 44er-Magnum erst seiner Geisel und dann sich selbst den Kopf wegschoß, als wären’s reife Weintrauben, sah zu, wie die Feuerschluckerin sich selbst anzündete und wie der Holzfäller zum letztenmal seine Kettensäge ansetzte. Jamie, der das Video schon ein halbes dutzendmal gesehen hatte, mußte dauernd loslachen. Janine sagte gar nichts, hielt aber die ganze Zeit meine Hand fest. Ich meinerseits erinnere mich nur, daß ich nach dem dritten oder vierten Tod nichts mehr spürte, aber ich blieb trotzdem weiter sitzen, obwohl mir noch sechsundneunzig bevorstanden.
Aber wer zählte schon mit?
Am Wochenende danach starb meine Tante Marion. Oder »sie ging dahin«, wie meine Mutter es ausdrückte, ein feiner Euphemismus, der ätherische Reiche heraufbeschwor und nicht das öde Schwarzweißbild von feuchter Erde und wühlenden Würmern. Meine Mutter war in New York, ich in Los Angeles. Und nein, ich würde wegen des Begräbnisses nicht extra hinüberfliegen. Sie weinte kurz und trocken, dann legte sie auf.
Ich war damals fünfundzwanzig, Absolvent einer unbekannten Uni, ein junger Mann, der zur Arbeit ging und Geld verdiente, die Gesellschaft junger Frauen suchte und vielleicht zuviel Zeit mit alten Jugendfreunden verbrachte, vor allem mit Jamie. Ich horchte eine Weile auf die Stille in der Leitung, dann rief ich Janine an und lud sie zum Essen ein. Sie hatte etwas vor. Und wie wäre es mit morgen? fragte ich. Da hatte sie auch schon vor, etwas vorzuhaben.
Seit zehn Jahren hatte ich meine Tante Marion nicht mehr gesehen. Ich hatte sie als zaundürre Frau im Rollstuhl in Erinnerung, mit zitternder Lippe und einer Nase darüber, die wie ein Felsvorsprung hervorragte, einer Nase, die qualitativ nicht anders als die meiner Mutter war, und nach Ablauf einer weiteren Generation würde auch meine so aussehen. Ihr Tod war die Folge eines Unfalls – einer Nachlässigkeit, behauptete meine Mutter –, und schon jetzt, keine vierundzwanzig Stunden danach, war ein Rechtsanwalt im Spiel.
Anscheinend hatte Tante Marion einen
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