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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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stürzte zweimal beim Drachenfliegen ab. Als er mit dem Bergsteigen anfing, mußte es gleich Freeclimbing sein – ohne Karabiner, ohne Seil, ohne Haken, nur der vage, ungewisse Halt von Fingern und Zehen. Ich hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er war schon lange nicht mehr in L.A., hatte den Lehrerjob, jede Art von fester Arbeit, festem Einkommen, festem Leben aufgegeben. Er war in Aspen, Dakar, Bangkok. Dann und wann bekam ich eine verschmierte Postkarte aus den absonderlichsten Orten, exotische Briefmarken, ein irres, wirres, hastiges Gekrakel, in dem nur noch das Wort »Alter« zu lesen war.
    Dies war das Gesicht von Jamies Tod: ein strahlender Nachmittag im Winter, Jamie an einer Bushaltestelle in Studio City, auf einer Bank sitzend. Es hatte geregnet – die ganze Woche davor –, und die mächtigen knorrigen Äste der Eukalyptusbäume waren schwer vor Nässe. Sie neigen dazu, einfach abzubrechen, diese Äste, deshalb läßt die Stadt sie auch regelmäßig stutzen. Jedenfalls war das früher so, als es noch Geld dafür gab. Ein Wind kam auf, ein großartiger, federleichter, knochentrockener Wind direkt aus der Wüste – die Bäume warfen tanzend ihr Laub ab. Und ein einzelner Ast, so dick wie ein Baum, gab seine Verbindung mit dem Stamm auf und erschlug meinen Freund Jamie, zerquetschte ihn, machte Hundefutter aus ihm.
    Bin ich zu plastisch? Sollte ich das Bild abmildern? Schönere Worte finden? Zu Gott im Himmel beten?
    Als das Telefon klingelte und ich die längst vergessene, aber unverwechselbare Stimme eines alten Schulkameraden hörte – Victor, Victor Cashaw –, da wußte ich schon, was er mir sagen würde, ehe er selbst es noch wußte. Ich legte auf und sah durch die Küche auf die Veranda hinaus, wo meine Frau Linda auf einem Rattansofa ausgestreckt lag, vertieft in eine Zeitschrift, die all die kleinen Geheimnisse über Acrylnagellack und Rouge preisgab und Ratschläge erteilte, welches Handtuch sie benutzen sollte, wenn sie in seiner Wohnung auftauchte. Vielleicht war sie ja auch schwanger. Ich ging wortlos zur Tür hinaus, stieg ins Auto und fuhr zum Video Giant.
    Irgendwie bereitete es mir eine perverse Freude, zu sehen, daß die Serie der 100 Gesichter des Todes inzwischen auf zwanzig Kassetten angewachsen war, aber ich wollte nur Folge IV, keine andere. Zu Hause schlich ich leise in mein Zimmer – Linda lag weiterhin auf dem Sofa auf der Veranda, immer noch reglos, bis auf die Bewegung ihrer Augäpfel – und schob die Kassette in den Recorder. Es war neun Jahre her, aber ich erkannte Renaldo, als hätte ich ihn eben erst gesehen, sein Dilemma war ewig, sein Schweiß unerschöpflich, seine Augen glitzerten für immer. Ich sah, wie die reizende Assistentin zunehmend in Panik geriet, konzentrierte mich auf den Strohhalm, der zwischen Renaldos weißen Zähnen steckte. Wann wurde es ihm klar? fragte ich mich. War es jetzt? Oder jetzt?
    Ich wartete bis zu dem Augenblick, in dem er den Halm fallen ließ. Armer Renaldo. Ich stoppte das Video bei diesem Bild.

56:0
    Der Gipsarm machte ihm nichts aus – das Ding war wie Stein, wie eine Waffe, und genau so würde er ihn auch einsetzen –, auch nicht die Überstreckung im Knie oder das Stechen in der Hüfte oder die langsam gelb werdenden Prellungen, die sich an seinen Oberschenkeln und über den Rücken ausbreiteten, nicht einmal das schmerzende Auge, das zugeschwollen war und aus dem eine dünne spülwasserfarbene Flüssigkeit sickerte: nein, es war die Erniedrigung. 56:0. Das war nicht mehr nur Niederlage, das war eine Tracht Prügel, ein Tritt in den Arsch, eine Vergewaltigung – die Sorte Ergebnis, über die Statistiker und Sportfreaks kichern würden, solange man über solche Ergebnisse Buch führte. Er hatte sich mit seinem Panzerdreß und dem Helm immer größer als sonst gefühlt, wie ein Held und Titan, aber Heldenmut ließ sich kaum aufbringen, wenn man mit dem Gesicht im Dreck lag, 56:0 im Rückstand, dabei hatte die andere Mannschaft nur ihre dritte Garnitur auf dem Spielfeld. Nein, der Gipsarm machte ihm nichts, eigentlich nicht, obwohl er teuflisch juckte und seine Hand wie ein pockenübersäter großer Klumpen daraus hervorragte, und das Auge auch nicht, obwohl es scheußlich aussah, einfach scheußlich. Der Trainer hatte ihn zum Augenarzt geschickt, der hatte ihm irgendeine blaue Lösung hineingeträufelt, mit einer kleinen, vorne spitz zulaufenden Lampe hineingeleuchtet und gemeint, es gebe keinen bleibenden Schaden, aber

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