Fleischeslust - Erzaehlungen
der Brandung, wie ein sorgfältig arrangiertes Opfer an die Seemöwen. Ein dicker dunkler Mann, seine Haut glänzte vor Nässe, lag mit dem Gesicht nach unten im Sand, als wäre er aus den Wolken herabgeplumpst. Der Junge bettelte mit erstickter Stimme, sogar zum Weinen war er zu aufgeregt, die Geschichte, die ich nicht hören wollte, brach aus ihm heraus in einer Sprache, die ich nicht verstand, und ich beugte mich über den Mann, um ihn umzudrehen.
Er schlief nicht. So sah Schlaf nicht aus. Die Augen des Mannes waren weit nach hinten gerollt, Erbrochenes klebte als weiße Flecken an seinen Lippen und beschmutzte den schlaff herabhängenden Schnurrbart, und sein Gesicht war riesengroß und aufgedunsen, als wäre es mit Gas aufgepumpt, als wäre in einer Minute eine ganze Woche verstrichen und als preßte die Fäulnis in seinem Innern bereits gegen die Haut. Am Strand war niemand sonst zu sehen. Ich hockte mich rittlings vor den monströsen Kopf, strich den dunklen Lappen der Zunge sauber und drückte das Ohr an die sandverklebte Brust. Vielleicht war da etwas zu hören, ganz leise und tief drin, das Wispern des Ozeans in einer glatten Porzellanschnecke, aber sicher war ich mir nicht.
»Mi padre« , rief der Junge, »mi padre.« Ich war Rettungsschwimmer. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich wußte, daß der Augenblick gekommen war, diese klaffenden Nasenlöcher zuzukneifen, meine Lippen auf das dunkle Loch unter dem kotzfleckigen Schnurrbart hinabzubeugen und der reglosen Gestalt vor mir Leben einzuhauchen, Mund zu Mund.
Mund zu Mund. Ich war sechzehn Jahre alt. Fünfeinhalb Milliarden von uns lebten auf dem Planeten, und hier war dieser Mann, dieser fremde dunkelhäutige Mensch mit dem starren Blick und den schleimglitzernden Lippen, und ich konnte es nicht tun. Ich sah den Jungen an, und es war, als hätte ich eine Pistole gezogen und ihn zwischen die Augen geschossen, und dann kam ich mit verzweifeltem Strampeln auf die Beine – denkt euch ein schlafendes Kätzchen, das aus dem kuschligen Nest seiner Geschwister gerissen wird, blindlings mit allen vier Pfoten in der Luft fuchtelnd –, ich kam auf die Beine und rannte davon.
Mein eigener Vater starb, als ich noch ein Säugling war, bei einem Flugzeugabsturz, und obwohl ich mir Fotos von ihm angesehen habe, als ich älter war, stellte ich ihn mir immer als gesichtslosen, zerfetzten Leichnam vor, aus dem Grab wiederauferstanden wie der ertrunkene Sohn in »Die Affenpfote«. Es war kein sehr appetitliches Vaterbild, aber so war es eben.
Mit meiner Mutter war es anders. In meiner Erinnerung ist sie ständig in Bewegung, schnitzelt irgendwas auf der Arbeitsfläche klein, während hinter ihr die Waschmaschine rumpelt, oder sie telefoniert geschäftlich – sie war Steuerberaterin –, dabei greift sie zu einem Schwämmchen, um imaginäre Fingerabdrücke von dem weißen Telefon in der Küche zu entfernen, alles gleichzeitig und in einem nie endenden Gewirbel. Sie starb, als ich zweiunddreißig war – oder »sie ging dahin«, wie sie wohl lieber gesagt hätte. Ich war nicht dabei. Ich weiß es nicht. Aber nach allem, was ich hörte, nachdem ich die Kruste von Höflichkeit und Euphemismen durchstoßen hatte, war es kein Dahingehen, kein sanftes Scheiden, keine angenehme Reise.
Sie starb in der Öffentlichkeit, an Herzschlag. Ein Anfall. Ein Krampf. Ein Infarkt. Gewalttätig und schnell, ein heftiges Reißen in der Brust, kein Dahinscheiden, kein Nachlassen, keine Intimität, keine Würde, keine Hoffnung. Sie war beim Einkaufen. Im Supermarkt. Halb sechs Uhr abends, der Laden war rappelvoll, blinkende Einkaufswagen, hier etwas und da etwas, kleine Entscheidungen, einundfünfzig Cents pro Packung gegen achtundsechzig. Sie krümmte sich auf dem Boden. Zerbiß sich die Zunge. Starb. Und all diese Gesichter, die auf sie hinabstarrten, lebendig, aber selbst zum Tode verdammt, all die verpatzten Abendessen, all die vergeudete Zeit an der Kasse.
Wir alle wußten, daß Jamie der erste von uns sein würde. Keiner zweifelte daran, Jamie am allerwenigsten. Er hofierte den Tod, protzte mit ihm, lieh sich seine Videos aus und versuchte auf seine eigene besessene, unnachgiebige Weise, ihn zu Tode zu quatschen. Jedesmal wenn er in sein Auto stieg, um sich beim Laden an der Ecke Zigaretten zu holen, war es wie der Start zu den 500 Meilen von Indianapolis. Er ließ sich auf Schlägereien ein, obwohl er dreißig war und es besser hätte wissen müssen, er sprang aus Flugzeugen und
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