Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
sich Moss’ Lippen bewegten, aber die Worte gingen völlig an ihm vorbei. »Was hast du gesagt, Moss?« murmelte er und blickte vom Essen auf.
    »Daß der Trainer vorhin sagte, wir müßten das Spiel gegen State wohl absagen und verloren geben.«
    Ray Arthur Larry-Pete blieb die Spucke weg. »Verloren geben?« brachte er schließlich heraus, und das Blut pochte ihm in den Schläfen. »Was zum Teufel meinst du damit: verloren geben?«
    Die wirbelnden Schneeflocken brachten seine ungeschützten Ohren zum Glühen, als er verbissen über den großen Hof zum Sporterziehungsgebäude hinkte. Was dachte sich der Trainer nur? War ihm denn nicht klar, daß es ihr letztes Spiel war, ihre letzte und einzige Chance, die Blamage des 56:0 wieder auszubügeln, noch ein letztes Mal die Stollenschuhe anzuziehen und gegen Caledonias schlimmste Rivalen, gegen das Team der State University anzutreten, das sie in der jüngeren Geschichte noch nie geschlagen hatten? War er verrückt?
    Es war kalt und winterlich, die letzte Novemberwoche, und Ray Arthur Larry-Pete Fontinot mußte sich mit der gesunden Hand den Kragen dicht um den Hals raffen, als er die breite Betontreppe hinaufstieg, über die der Schnee wehte. Die stechenden, glühenden Schmerzen, die mit dieser einfachen Geste einhergingen, machten ihm nichts, rein gar nichts, und er verzog kaum das Gesicht, als er automatisch den breiten Quergriff der schweren, zweieinhalb Meter hohen Doppeltür packte. Er nickte zwei Ringern zu, die in Turnhosen die Treppe hinaufrannten, schob sich an der kläglich leeren Trophäenvitrine vorbei ( Caledonia College: Dritter Platz in der Endausscheidung 1938 , lautete die Inschrift auf dem einsamen Pokal – eine Bronzefigur mit antikem Kopfputz auf einem Sockel, in dem die Ergebnisse jener illustren, längst vergangenen Spielzeit mit sechs Siegen und fünf Niederlagen eingraviert waren, die einzige positive Saison, die Caledonia in irgendeiner Disziplin vorweisen konnte, außer im Damenhockey, und wer zählte das schon?), trainierte seine Kniegelenke bis in die mörderische dritte Etage und betrat das Büro des Trainers durch die Seitentür. Trainer Tundra war praktisch nie in seinem offiziellen Büro auf dem Hauptkorridor, wo es aufgeräumte Schreibtische, Sekretärinnen und regelmäßig erneuerte Dekorationen gab, Telefone, Fotokopierer und das neue, unbenutzte Faxgerät, mit dem er bei Bedarf mit seinen Kollegen an anderen Unis Spielzüge austauschen konnte. Nein, er zog das Hinterzimmer vor, eine winzige, matt erhellte Zelle, in der sich der Müll von neunzehn sieglosen Spielzeiten türmte. Ray Arthur Larry-Pete spähte durch die offene Tür; der Trainer saß über seinen Schreibtisch gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. »Trainer?« fragte er leise.
    Keine Reaktion.
    »Trainer?«
    Aus dem Nest seiner Hände erhob sich langsam das furchige, zerklüftete Gesicht des Trainers, und die böse glitzernden Raubvogelaugen, die jedem Anfänger und jedem alten Hasen im roten Dreß des Collegeteams panischen Schrecken eingeflößt hatten, starrten ausdruckslos zu ihm auf. Diese Augen blickten jetzt erschöpft und geschlagen, und das war ein Schock. Ebenso die Falten in dem Hemd, das sonst immer mit militärischer Akkuratesse gestärkt und gebügelt war, die abgeschabten Schuhe und die plötzlich verletzlich wirkenden Hände – sogar der Bürstenschnitt des Trainers, normalerweise steif und unerschütterlich wie ein Falkenhorst, schien auf seinem Schädel zu erschlaffen. »Fontinot?« sagte der Trainer schließlich mit toter Stimme.
    »Ich, äh, wollte nur nachfragen – ich meine, das Training ist doch zur üblichen Zeit, oder?«
    Trainer Tundra antwortete nicht. Er wirkte in diesem Moment eingeschrumpelt und verloren, älter als der älteste Mann im ältesten Dorf in den Bergen Tibets. »Heute wird nicht trainiert«, sagte er und rieb sich die Schläfe dort, wo die Militärchirurgen ihm die Stahlplatte eingesetzt hatten.
    »Kein Training? Aber... sollten wir nicht – ich meine, Trainer, müssen wir nicht...«
    »Wir bringen kein Team aufs Feld, Fontinot. Von zweiundvierzig Jungs können nur sechzehn überhaupt eine ganze Spielzeit durchhalten, das heißt, sie erwachen möglicherweise lange genug aus ihrem Koma – und da zähl ich dich schon mit. Dabei bist du so fertig, daß du kaum stehen kannst, geschweige denn einen Stürmer blocken.« Er stieß einen Seufzer aus, nahm einen ausgetretenen Schuh von einem der Müllhaufen auf dem Boden und

Weitere Kostenlose Bücher