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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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drehte ihn nachdenklich in den Händen. »Wir sind fertig, Fontinot. Erledigt. So lautet der Abschiedsbrief. So wie in Saigon, als die Schlitzaugen es überrannt haben – es ist Zeit, unsere Verluste zu minimieren und abzuhauen.«
    Ray Arthur Larry-Pete war völlig ratlos. Er hatte sein Leben hingegeben, hatte geschwitzt und gekämpft und sich abgemüht, das ganze gedunsene Gefäß seiner selbst mit dem Bodensatz der Niederlage angefüllt, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Er würde wahrscheinlich in allen vier Sportpädagogikprüfungen durchfallen, Suzie hielt ihn für einen Clown, seine Mutter starb an Gebärmutterkrebs, und sein Vater – der Mann, der ihn nach den drei größten Stürmern in der Geschichte des Collegefootballs benannt hatte – kam extra mit dem Auto aus Cincinatti zu diesem Spiel, seinem letzten Spiel, dem endgültigen Endspiel, das zwischen ihm und der Welt der Lohnzettel und Hypotheken stand. »Sie meinen«, stammelte er, »Sie meinen doch nicht etwa, wir sollten das Spiel verloren geben , oder?«
    Lange fixierte ihn der Trainer. Leise Geräusche drangen aus dem Korridor herein – das Klatschen von Turnschuhen, eine zufallende Tür, die weitentfernten Pfiffe des Basketballtrainers. Trainer Tundra fuhr sich unwillkürlich mit der Hand ans Hosenbein, und einen Moment lang glaubte Ray Arthur Larry-Pete, er wolle seine Prothese freilegen. »Was soll ich denn machen?« gab er schließlich zur Antwort. »Soll ich vielleicht selber aufs Spielfeld gehen?«
    Als Ray Arthur Larry-Pete wieder in seinem Zimmer war, sann er über die Perfidie des Ganzen nach. Vor ein paar Stunden hatte ihn der Sport noch angekotzt – was hatte er ihm schon eingebracht außer Schmähungen und Blutergüssen? –, aber jetzt wollte er unbedingt wieder spielen, so sehr, daß er dafür getötet hätte. Sein Zimmergefährte – Malmo Malmstein, der Kicker des Teams – lag immer noch im Krankenhaus, also hatte er das Zimmer den ganzen Vormittag für sich, und auch den endlosen Nachmittag, der darauf folgte. Er lag dahingestreckt auf dem Bett, wie eine Kreatur, die auf freiem Feld angeschossen worden war und sich zum Sterben in ihre Höhle geschleppt hatte, er schwänzte alle Vorlesungen, ließ die Prüfungen sausen und suhlte sich in seinem Leid. Um drei rief er bei Suzie im Studentinnenheim an – er mußte mit jemandem reden, mit irgendwem, oder er würde verrückt –, aber eine ihrer Kommilitoninnen sagte ihm, sie lasse sich gerade die Nägel machen und sei wohl nicht vor sechs zurück. Die Nägel . Lieber Himmel, das war ja ein starkes Stück: Wo war sie, wenn er sie brauchte? In seinem Magen machte sich ein übles, flaues Gefühl breit – sie kappte die Verbindungen zu ihm, das spürte er.
    Und dann, es wurde gerade dunkel, er hatte den Nadir seiner Verzweiflung erreicht, ging es mit ihm durch. Was war denn los mit ihm? War er ein Schlappschwanz? Ein Wasch- oder Jammerlappen? Einer, der schon aufgab, bevor er die Stollenschuhe anhatte? Nie im Leben! Nicht Ray Arthur Larry-Pete Fontinot. In einer Art Vulkanausbruch stand er vom Bett auf und stürzte durch den Raum ans Telefon. Schwitzend und schwerfällig, am ganzen Leib vor Erregung zitternd, sammelte er all seine Konzentration in dem dicken bleichen Stummel seines Zeigefingers und wählte die Nummer von Gary Gedney, dem alten Knacker, der sich um die Ausrüstung und den Gatorade-Vorrat kümmerte. »Ruf die Jungs zusammen«, brüllte er in den Hörer.
    Gedneys Antwort klang wie das dünne heulende Pfeifen eines aufgeblasenen Luftballons, den man losgelassen hat: »Wer ist denn da?«
    »Fontinot. Ich will, daß du alle Jungs anrufst.«
    »Wieso denn?« stöhnte Gedney.
    »Wir berufen eine Mannschaftsversammlung ein.«
    »Wer ist wir?«
    Ray Arthur Larry-Pete überdachte die Frage einen Moment, und als er endlich sprach, lag so viel Überzeugung und Autorität darin, wie er es nie für möglich gehalten hätte: »Ich.«
    Um sieben Uhr abends fanden sich sechsundzwanzig Mitglieder der Caledonia Shuckers im Clubzimmer von Bloethal Hall ein. Ihre wuchtigen Gestalten füllten den Raum mit ihrer schieren protoplasmatischen Masse, und alle Stühle und Sofas ächzten unter ihrem Gewicht. Zusammen waren sie mit vielen Kilometern von Leukoplast, Mullbinden und Stützbandagen umwickelt – und das Lampenlicht brachte die bläulichen Krater ihrer Narben und die Schienenstränge der Wundnähte an ihren Armen zur Geltung. Man sah Gipsbeine, Krücken, Manschetten und Schlingen. Und da

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