Fleischeslust - Erzaehlungen
haben Sie alle die Berichte gelesen. Es gab noch andere Faktoren, mit denen wir nicht rechnen konnten, Ernteeinbußen bei Reis und Maniok – wir wissen bis heute nicht, welche Spezies wir da mit der ursprünglichen Sprühaktion versehentlich ausgerottet haben, das bleibt wohl ein Rätsel –, aber das Getreide wurde in diesem Jahr von Rüsselkäfern und ähnlichem Viehzeug dezimiert, und als wir die Katzen endlich abwarfen, hatten die Menschen dort schon mächtig Hunger, und so war es wohl unvermeidlich, daß ein ziemlicher Prozentsatz der Tiere gleich wieder verlorenging. Aber wir haben da jetzt ein CARE -Projekt laufen, außerdem hat sich die Rattenpopulation irgendwas eingefangen – wir wissen noch nicht genau was, wahrscheinlich ein Virus –, und wie ich höre, erleben die Geckos gerade ein Comeback.
Also, meine Herren, was ich sagen will: es könnte schlimmer sein, und zu jeder Wolke gehört ein Silberstreif am Horizont, meinen Sie nicht auch?
Byrd the Third
Er wollte ja eigentlich nur einen Vierteldollar, fünfzig Cents, einen Dollar vielleicht. Der Typ war leichte Beute, keine Frage – die allerleichteste. Das sah man daran, wie er seinen Koffer mit den knochigen, stark behaarten alten Händen packte und dabei ständig die Augen zusammenkniff, als wäre er gerade erst aufgestanden. Die Leute strömten aus dem Zug, die übliche Zusammenstellung – eine magere Schwarze mit einem bleichen Muttermal im Gesicht und zwei wilden Kindern, die sich an ihrem Kleid festklammerten, ein dichtes Knäuel von braven Teenagern, Männer mit Aktentaschen und modischem Haarschnitt, die mit zackigen Schritten den Bahnsteig durchmaßen – und bis jetzt hatte noch keiner den alten Mann bemerkt. Roger stand reglos sechs Meter vor ihm und wartete ab. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rohlich einem Polyestermädchen mit riesiger Sonnenbrille seine verknitterte Baseballmütze entgegenhielt, und er registrierte auch ihren erbosten Blick, das vorgeschobene Kinn, die Abfuhr. Jetzt drang Rohlichs Stimme durch das Quietschen einer Zugbremse und das Klappern und Schlurfen von Schuhen und das Geschnatter und Gebrabbel der Ankommenden und Abfahrenden wie ein defektes Funkgerät zu ihm: »He, wer hat dich denn in den Hintern gezwickt, Mädel? Ich wollte doch bloß ’nen Vierteldollar...«
Doch der alte Mann, das leichteste aller Opfer, bewegte sich nicht. Er blieb wie angewurzelt stehen, direkt vor dem Baltimore-Schild, und seine wäßrigen Augen betrachteten die Menge wie ein Forscher, der gerade einen neuen Stamm entdeckt hatte. Der Kerl war alt, das sah Roger, über siebzig, und er hatte offensichtlich keinen Schimmer, wo er war. Roger senkte den Kopf und näherte sich seiner Beute wie immer von der Seite wie ein Krebs – nie direkt auf sie zugehen, sie nur nicht erschrecken. Er leckte sich die Lippen, ehe er sein Sprüchlein aufsagte, und dachte dabei: Ein Dollar, ein Dollar ist das mindeste , als die Miene des Alten sich plötzlich zu einem Lächeln aufhellte. Roger blickte sich um. Niemand hinter ihm. Der alte Mann grinste ihn an.
»He«, gurrte Roger, zog den Kopf noch weiter ein und rollte ihn zwischen den Schultern nach hinten, »hallo. Ich meine, wie geht’s denn so?«
Er trug einen Anzug, der Alte, und keinen schäbigen – wahrscheinlich Mohair oder so was –, und er hatte einen perfekten Scheitel, eine lotrechte Linie, die eine Schneise nackter rosa Kopfhaut freilegte. Die Haut unter den Backenknochen spannte, und um seine Lippen lag ein eigenartiger Ausdruck, aber der Blick der milchigen Augen war jetzt scharf und fest. Auf Roger gerichtet. »Soso«, sagte der Alte mit tiefer, herzlicher Stimme, die ein Echo in sich trug, »schön, Sie wiederzusehen, freut mich wirklich sehr.« Und er streckte ihm die Hand hin.
Roger nahm sie, eine trockene Alte-Männer-Hand, drückte sie einen Moment lang und sah ihm in die Augen. »Ja, klar. Freut mich auch sehr.« Er fragte sich, ob der Kerl vielleicht geistesgestört war – wahrscheinlich wartete er auf seine Pflegerin. Oder seinen Wärter. Aber die Armbanduhr – das war eine Movado, dreihundert Eier, Minimum –, und er hatte einen Collegering, der auch nach etwas aussah. »Wirklich«, fügte Roger bekräftigend hinzu.
»Ja«, sagte der Alte, schmatzte und hielt Roger seinen Koffer zum Tragen hin. Roger spürte, wie sein Herz rascher schlug. Das war ja zu schön, um wahr zu sein, geradezu eine Phantasie in 3-D und Technicolor. Er sah über die Schulter, suchte den Bahnsteig
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