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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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nach Bullen ab und nahm dann den Koffer. »Wir steigen diesmal wieder im Sheraton ab?« fragte der Alte.
    Roger atmete tief durch, sein Blick huschte hin und her, ein ganzer Bienenschwarm summte in seinem Brustkorb – Jetzt bloß weg von hier! –, und erwiderte: »Im Sheraton, ja. Natürlich. Genau wie letztes Mal, nicht?«
    Der alte Mann zupfte sich an der Nase, als hätte er Angst, sie würde ihm aus dem Gesicht fallen. Er musterte seine Schuhe. »Genau wie letztes Mal«, wiederholte er.
    Noch ein Rundumblick, dann zog Robert die Schultern hoch, packte den Koffer und wandte sich zum Ausgang. »Gehen wir«, sagte er.
    Auf der Zugfahrt kamen immer Erinnerungen hoch – der Rhythmus, das unstete Vibrieren, bei dem die Schichten seiner Gedanken abblätterten, als wären sie Wachstumsringe eines Baums. Eben noch war er ein kleiner Junge, der mit der Mutter vor dem Radio kauerte, aus dessen undurchdringlichem Dunkel sich die Stimme seines Vaters an die gesamten Vereinigten Staaten richtete, und dann war er selbst Vater, der leichten Schrittes über das ehrwürdige Kopfsteinpflaster von Beacon Hill flanierte, dann ein Großvater, und schließlich ein alter Mann im Zug, der in einem Fenster sein unruhiges Spiegelbild anstarrte. Das passierte ihm immer in der Eisenbahn. Es war wie eine Droge, ein Narkotikum, wie eine Lösung, die ihm Tropfen für Tropfen in die Adern seiner verschwommenen Erinnerung rann. Eigentlich war es lachhaft: er fuhr Zug, weil er nur ungern flog. Richard Evelyn Byrd III., der Sohn des größten Fliegers aller Zeiten, und er mochte nicht fliegen. Immerhin war er jetzt alt – als Kind war er genug geflogen. Beziehungsweise als junger Mann. Er erinnerte sich an das grelle, blendende Schelf der Antarktis, die weite Eisfläche, wie mit dem Rasiermesser abgeschnitten, spürte das Rucken der Landung, den harten, lauten Knall der Kufen auf dem Eis so lebhaft, als hätte er sie auch jetzt unter sich, sah das Glitzern in den Augen seines Vaters, die vollendete Gelassenheit, mit der er sich allen Dingen gestellt hatte, den guten wie den schlechten.
    In Boston hatte ihn Leverett zum Zug gebracht, und in Washington würde ihn seine Schwiegertochter abholen. Das hatte er laut vor sich hin gesagt, während der Waggon schwankend auf den Gleisen dahinratterte. Leverett. Seine Schwiegertochter. Washington. Aber nein, das stimmte ja gar nicht. Dieser freundliche junge Mann von der Geographischen Gesellschaft, der das mit der Suite im Sheraton netterweise erledigt hatte, der holte ihn ab. Natürlich. Ein erstklassiger Empfang, keine Frage. Und so sollte es ja auch sein – wenn er, der Sohn seines Vaters, den weiten Weg in die Hauptstadt antrat, um die neue Sonderbriefmarke zum Gedenken an den Mann vorzustellen, dessen Legende nie verklingen würde, den letzten Entdecker von echtem Schrot und Korn, den letzten Helden. Ja. Davon würde er ihnen erzählen – auch diesem Walter Soundso von der Geographischen Gesellschaft –, von dem Museum seines Vaters. In seinem Koffer lag ein Original-Mukluk, ein Schneeschuh aus Rentierfell, von der Expedition 1929 – nur zum Ansehen, als eine Art Lockmittel. In Boston hatte er das ganze Haus voll mit solchen Sachen, ein wahrer Schrein war das, und es war eine Schande, daß diese Dinge nicht öffentlich ausgestellt wurden, in einer ständigen Sammlung – und warum nicht? Nur weil ein paar Dollars dafür fehlten. Für Präsidenten-Büchereien war schließlich auch Geld da, oder nicht? Und für Sozialhilfe und Essensmarken und was nicht noch alles? Was konnte so ein Byrd-Museum schon kosten? Eine Million? Oder zwei? Jedenfalls hatte er den Mukluk seines Vaters dabei, und der allein wog tausend Worte des Bittens und des Feilschens auf – ach was, zehntausend.
    Und dann hielt der Zug – er spürte das Rucken in seinem Inneren, und einen Moment lang glaubte er, wieder hoch oben im harten, glasklaren Himmel über der Antarktis zu schweben, ja er fühlte sogar den eisigen Wind. Aber der Zug hielt, da war sein Koffer, und er stieg aus. Washington, D.C. Die Hauptstadt. Er erkannte den Bahnhof, natürlich. Aber wo war seine Schwiegertochter? Wo war der Wagen? Wo war dieser nette junge Mann von der Geographischen Gesellschaft?
    Die Stimme des Alten nörgelte an ihm herum, ein sonores Gebrabbel, das immer wieder innehielt, sich verschluckte und dann alles wieder hervorwürgte. Warum sie nicht mit dem Wagen fuhren? Würden sie etwa den ganzen Weg zu Fuß gehen? Und seine Schwiegertochter,

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