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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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getragen hat? Der echte?« Der alte Mann reckte sich und preßte den Schuh gegen seine Brust. »Und ich will Ihnen noch etwas sagen – das dürfen Sie ruhig Walter erzählen«, sagte er und senkte vertraulich die Stimme. »Ich hab mehr solche Sachen. Eine Menge. Notizbücher, Parkas, Rentierfellhosen und Pelzstiefel, sogar den Kompaß – ja, genau den, mit dem er die Lage des Südpols bestimmt hat.« Er wiegte sich hin und her. »Ja«, murmelte er, und vielleicht sprach er nur mit sich selbst, so wenig achtete er auf Roger und seine Umgebung, »erzählen Sie das Walter. Wir brauchen höchstens eine Million. Und das ist doch heutzutage gar nichts. Gar nichts.«
    Der alte Knabe war zum Schießen, aber alles hatte seine Grenzen, und obwohl Roger nichts vorhatte – er hatte seit etwa zehn Jahren nichts vor –, wurde er langsam ungeduldig. »Da haben Sie vollkommen recht«, sagte er, unterbrach damit eine hochtrabende Rede über dieses Museum und benutzte den Satz zugleich als Vorwand, um sich vorzubeugen und die trockene alte Hand nochmals zu schütteln. Doch diesmal, im Gegensatz zu vorher, als alle Blicke im Bahnhof auf ihnen lagen, zog Roger geschickt die Armbanduhr über das knochige Handgelenk und ließ sie in seine Manteltasche gleiten, ohne daß der Alte es merkte.
    Oder vielleicht doch? Sein Ausdruck veränderte sich abrupt, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Er legte das Gesicht in tiefe Falten. Er wirkte alt. Alt und verstopft. »Ich habe Durst«, verkündete er unvermittelt.
    »Durst?« dröhnte Roger los, berauscht von seinem eigenen Erfolg. »Na so was, ich auch – wie wär’s, wenn wir uns ein, zwei Bier genehmigen? Na? Eine Party feiern. Auf Ihren Mukluk und das Museum trinken.« Er erhob sich und klopfte dramatisch seine Taschen ab, was ihm wieder enormes Vergnügen bereitete – er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal soviel Spaß gehabt hatte. »Aber ich bin ziemlich knapp. Haben Sie ein bißchen Bares? Für die Getränke, meine ich.«
    Wieder ein Mienenwechsel. Der Kiefer schob sich vor, der Blick erfaßte ihn. »Sie sind gar nicht der junge Mann von der Geographischen Gesellschaft«, sagte der alte Mann leise.
    »Zum Teufel, klar bin ich der«, gab Roger entrüstet zurück, und dabei fühlte er sich auf einmal so beschwingt, daß er zweimal um die eigene Achse wirbelte und die Arme hochwarf wie ein Steptänzer, der sich zum Finale aufschwingt. »Aber sicher bin ich der, Alterchen, ganz bestimmt – aber wie sagten Sie, daß Sie heißen?«
    »Byrd. Richard Evelyn Byrd. Der Dritte.«
    Oh, welche Feierlichkeit, welche Würde! Ebensogut hätte er den König von Arabien ankündigen können. Roger lachte laut los. »Bird, ja? Ein kleines Vögelchen. Zwitscherzwitscher Bird the Third.« Dann ließ er einen Anflug von Häßlichkeit in seine Stimme gleiten und baute sich vor dem alten Mann auf, die Pose war eindeutig: »Ich sagte, haben Sie mal ein bißchen Geld für ein Bier, Bird the Third?«
    Die Hand zitterte, die Finger fummelten in der Jackettasche, und da kam die Brieftasche hervor: echtes Kalbsleder, Behältnis für die Sorte Scheine und Dokumente, die den Unterschied zwischen Menschen wie diesem alten Mann und Roger, Rohlich und all den anderen Pennern und Säufern mit verquollenen Augen und fauligen Zähnen ausmachten, die sich nachts überall in der Stadt auf ihren Pappkartons zusammenrollten. In diesem Augenblick tat Roger der zurückgebliebene Alte beinahe leid – beinahe. Letzten Endes aber tat er sich selbst natürlich noch mehr leid. Ein rascher Griff, und die Brieftasche war sein: fünf Zwanziger, sauber gefaltet und mit einer Büroklammer zusammengehalten, drei Eindollarscheine, eine Rückfahrkarte, Washington–Boston, Fotos: eine alte Dame, ein Junge im Baseballdreß, irgendein weißhaariger alter Trottel im Parka. Und da, was war das? Eine Visa-Karte, dünn wie eine Hostie, schimmernd wie ein Topf mit Gold.
    Er trank für gewöhnlich einen Cocktail vor dem Abendessen – meist einen Manhattan mit einer Zitronenscheibe statt der Kirsche – und zum Dinner einen guten Cabernet oder einen Pinot noir, aber so etwas hatte er noch nicht gekostet, das war etwas Neues. Der junge Mann reichte ihm die Flasche – Gallo White Port stand auf dem Etikett, 19% vol –, und er trank einen langen, glucksenden Schluck, der ihm das Kinn benetzte und in seinem Magen brannte. Er war durstig, fast ausgedörrt, die Flüssigkeit – sie war kalt, sie war naß – floß gut

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