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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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wo war sie? Doch gleich darauf wechselte er das Thema, als hörte er sich selbst nicht zu, und nun quasselte er los, was es doch für ein prächtiger Tag sei, wie im Hochsommer am Südpol, hahaha, und plötzlich lachte er oder röchelte – schwer zu sagen, was es war. Roger hielt sich zwei Schritte vor ihm, den Kopf gesenkt, die Finger um den Koffergriff geklammert, und hörte seinem Gepolter und Gekeuche zu. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er. »Gleich sehen Sie Ihre Schwiegertochter, sie wird dort sein, und alle anderen auch. Hier geht’s lang.« Er blieb kurz stehen, damit der Alte zu ihm aufschließen konnte, und dann führte er ihn in die kleine Gasse auf der Rückseite einer Altwarenlagerhalle.
    Sie waren jetzt sechs Blocks vom Bahnhof entfernt, und Rogers rasendes Herz hatte sich etwas beruhigt, obwohl er immer noch bei jedem Schritt gegen den Impuls ankämpfen mußte, mit dem Koffer davonzurennen. Das wäre die einfache Variante. Doch er wäre ein Narr, wenn er das täte, denn er wußte genau, daß die Sache noch viel einträglicher werden konnte, wenn er es richtig anstellte. Wenn er es schaffte, den alten Knacker an ein ruhiges Plätzchen zu bugsieren, das er auf der Rückseite der Halle kannte, zwischen sechs Meter hohen Zeitungsstapeln, dann konnte er etwas genauer suchen. Was hatte der Knabe außer der Uhr und dem Ring noch? Vielleicht eine Brieftasche? Bargeld? Kreditkarten?
    Am Eingang zur Lagerhalle – einem großen Garagentor aus Aluminium, das an einer Seite weit genug aufgebogen war, um einen schmalen Menschen, der die Luft dabei anhielt, hindurchzulassen – überraschte ihn der Alte. Er sträubte sich überhaupt nicht. Musterte bloß kurz den Müll, den der Wind an die Betonmauer geweht hatte, als wäre das der normalste Anblick der Welt, zog sein Bäuchlein ein und folgte Roger in den dunklen, riesigen, widerhallenden Lagerraum.
    Geschafft: sie waren sicher. Es war vorbei. Alles, was der alte Mann bei sich trug, bis zu den Unterhosen, gehörte jetzt Roger, kein Mensch würde ihn daran hindern. Roger führte ihn hinter einen Papierstapel und stellte den Koffer ab. »Da wären wir«, sagte er und drehte sich um, so daß er dem Alten ins Gesicht sah. »Das Sheraton.«
    »Das ist nicht das Sheraton«, sagte der alte Mann, aber er wirkte keineswegs beunruhigt. Er lächelte, und seine Augen glänzten. »Und das Ritz-Carlton ist es auch nicht. Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
    Roger grinste ebenfalls. Eine Zeitlang schwiegen sie, irgendwo am anderen Ende der Halle war das ferne Hupen eines Gabelstaplers zu hören. »Ja, sicher«, sagte Roger schließlich, »ich hab bloß einen Witz gemacht, klar. Sie kann man nicht hinters Licht führen, was?« Er ließ sich auf einen Stapel Zeitungen nieder und bedeutete dem Alten, sich auch zu setzen. Er zündete sich eine Zigarette an – vielmehr einen Stummel, den er am Bahnhof aus einem Aschenbecher gefischt hatte. Er ließ sich Zeit, genoß den Moment – es gab keinerlei Grund zur Eile und zum Grobwerden auch nicht. Der Alte hatte einen Sprung in der Schüssel, keine Frage.
    »Was ist denn in dem Koffer drin?« fragte Roger beiläufig, schwenkte das Streichholz und stieß den Rauch durch die Nase aus.
    Der Alte wirkte zufrieden, als säße er zu Hause in seinem Lieblingssessel, schmatzte mit den Lippen und brabbelte leise vor sich hin, jetzt aber wurde seine Miene ernst. »Meines Vaters Mukluk.«
    Roger konnte sich nicht beherrschen und stieß ein Lachen aus. »Ihres Vaters wer?«
    »Hier, ich zeig’s Ihnen«, sagte der Alte, und Roger ließ ihn nach dem Koffer greifen. Er hob ihn auf seine hageren alten Knie, ließ die Schnallen aufschnappen und hob den Deckel an, legte einen Stapel Kleidung frei – Socken, Hemden, Taschentücher und ein Mantel aus Tweed. Er wühlte eine Weile darin herum, ehe er fand, was er suchte – eine Art Schuh oder Stiefel oder so, anscheinend aus Fell gemacht –, und hielt es Roger hin, als wäre es der Hope-Diamant.
    »Aha, und was soll das sein, sagten Sie?« fragte Roger, während er das Ding nahm und in den Händen drehte.
    »Der Mukluk meines Vaters. Für das Museum.«
    Roger wußte nichts Rechtes damit anzufangen. Er zog schweigend an seiner Zigarette, dann reichte er dem Alten achselzuckend den Schuh zurück. »Ist das Ding was wert?«
    »Ha!« rief der Alte aus, und Roger hatte schon Angst, er würde aufstehen und Ärger machen. »Etwas wert? Ein Original-Mukluk, den Admiral Byrd in der Antarktis

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