Fleischessünde (German Edition)
brummig.
Sie standen am Eingang eines stockfinsteren Tunnels.
Sie starrte in das dunkle Loch. „Hast du eine Taschenlampe?“
„Brauche ich nicht. Ich sehe auch so genug.“
„Calli.“ Er drehte sie so, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, und schaute in ihre schönen grünen Augen. Er wollte ihr etwas sagen, konnte sich aber nicht dazuentschließen. So zog er sie nur wortlos an sich.
Einen Augenblick später zog er sein Messer, das er am Oberschenkel trug, schnitt sich in den Handballen und streckte ihn Calliope hin. Natürlich verstand sie sofort. Er wollte sie schützen, bevor sie ins Ungewisse gingen. Durch sein Blut gewann sie an Stärke und Schnelligkeit. Sollte sie verwundet werden, würde sie schneller wieder heilen. Es war das Beste, was er ihr anbieten konnte.
Während sie seine Hand nahm und die Lippen auf die Schnittwunde presste, schaute sie ihm unverwandt in die Augen. Das Gefühl des Saugens an seiner Hand, ihre Lippen auf der Haut zu spüren, empfand Malthus als ungeheuer erotisch. „Das nächste Mal, wenn wir miteinander schlafen und ich in dir drin bin, möchte ich auch, dass du von mir trinkst.“
Sie antwortete nicht darauf. Nur ein leichtes Beben ging ihr durch den ganzen Körper.
Kurz darauf ließ sie seine Hand los und hob den Kopf. Ihre Lippen waren feucht und dunkelrot von seinem Blut. Er zog sie fest an sich und küsste sie, wobei er den salzigen, metallischen Geschmack seines eigenen Bluts schmeckte.
Als er die Lippen von ihr löste, sagte er mit einem Lächeln: „Jetzt brauchst du auch keine Taschenlampe mehr.“
Der dunkle Schatten des Dreitagebarts auf seinem Kinn ließ seine Zähne noch weißer schimmern. Calliope verspürte das Bedürfnis, ihn ein weiteres Mal zu küssen, um das Kratzen seiner Stoppeln genießen zu können. Sie war ein wenig konfus und fragte sich, was Malthus mit ihr machte, dass sie immer wieder von solchen Gefühlsausbrüchen überrascht wurde. Vielleicht war es besser, gar nicht darüber nachzudenken. Außerdem gab es im Augenblick Wichtigeres.
„Wohin führt dieser Tunnel?“, fragte sie.
Er hielt ihr die Hand hin. „Komm, lass es uns herausfinden.“ Sein Ton klang ein wenig unernst, fast amüsiert, der Situation jedenfalls vollkommen unangemessen. „Ich liebe es so kuscheligund dunkel. Dazu noch den Nervenkitzel … herrlich.“
Sie schaute ihn misstrauisch von der Seite an. Er schien vor Vorfreude geradezu zu sprühen. Dann blickte sie in den wenig vertrauenerweckenden stockfinsteren Tunnel, der, wie sie vermutete, Hunderte von Metern in den Bauch der Erde führte.
„Du findest das also lustig?“
„Abgesehen von meiner Klaustrophobie – ja.“
„Von deiner – was?“
„Klaustrophobie. Ich bin nicht gern in engen Räumen, besonders nicht in Fahrstühlen. Die erinnern mich zu sehr an Gefängniszellen. Oder die Arrestzellen auf dem Schiff. Tunnel hingegen finde ich ganz in Ordnung. Sie mögen zwar eng sein, aber immerhin geht es vorwärts und rückwärts immer weiter.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie lang ist dieser Tunnel denn?“
„Etwas mehr als hundertdreißig Meter. Dann gibt es eine Querverbindung zu einem anderen Tunnel, und schließlich kommt eine Abzweigung zum Styx. Dort wartet ein Boot auf uns.“
Das Boot, in dem sie übersetzten, war alt und wuchtig. An vielen Stellen war das Holz vom Gebrauch blank gewetzt, wie poliert. Bänke oder andere Gelegenheiten zum Sitzen gab es nicht. Man musste stehen. So standen Malthus und Calliope am Heck inmitten einer namen- und gesichtslosen Menge anderer Passagiere. Ein langes hölzernes Ruder hielt den Kurs.
Als sie sich der Flussmitte näherten, schlugen die Wellen höher. Dann beruhigte sich die Fahrt wieder, aber die Wasseroberfläche hatte sich in ein unübersehbares Flammenmeer verwandelt. Malthus schaute zurück und beobachtete, wie sich das Feuer dort legte, während vor ihnen die Flammen weiter hochschlugen.
Sie waren an einem Ort angelangt, der gewissermaßen der Knotenpunkt der Unterwelt war. Hier stießen die Reiche der Mächtigen aneinander, und da ihnen der Zutritt zu allen fremdenTerritorien ebenso verwehrt war wie der zur Oberwelt, war dieses der einzige Ort, wo Götter und Halbgötter sich von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten konnten.
Geräuschlos glitt das Boot an den Strand des anderen Ufers. Neben Malthus waren Dagan und Alastor. Sie hatten düstere Mienen aufgesetzt und wirkten aufs Äußerste angespannt.
Weitere Kostenlose Bücher